Beitrag in der Jungen Welt vom 27. November: Wenn die Justizkasse die Reisekosten zahlen muss, dürfte es teuer werden. Vor der Großen Strafkammer 27 des Hamburger Landgerichts beginnt am 3. Dezember das mit Spannung erwartete Pilotverfahren im Rondenbarg-Komplex, dem mit insgesamt 80 Angeklagten umfangreichsten Verfahrenskomplex zu den Ereignissen beim G-20-Gipfel im Sommer 2017. Die jungen Angeklagten müssen für diese und die folgenden Verhandlungstage quer durch die Republik anreisen. Sie kommen aus Stuttgart, Mannheim, Halle und zwei aus dem Raum Bonn. Aber für Hamburgs Justiz fallen solche Ausgaben wohl kaum ins Gewicht. Man lässt es sich etwas kosten, den Feldzug gegen die Gegner des G-20-Gipfels im Sommer 2017 zum krönenden Abschluss zu führen.
Tatsächlich ist dieses Verfahren, das die Ereignisse am 7. Juli 2017 im Industriegebiet Rondenbarg beleuchten soll, in gewissem Sinne eine Krönung. Allerdings nicht so, wie es die Hamburger Staatsanwaltschaft meint, die es wider alle Vernunft durchgesetzt hat. Das Verfahren setzt der an Absurditäten und Rechtsverstößen reichen Serie von G-20-Prozessen in negativer Hinsicht die Krone auf. War bereits der erste G-20-Prozess im August 2017 gegen den Niederländer Peike S., bei dem er für zwei auf Polizisten geworfene leere Flaschen, die niemanden verletzten, zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt worden war, eine Farce – dieser Prozess ist es mindestens ebenso.
Zum einen stehen hier die falschen Angeklagten vor Gericht. Wer am Morgen des 7. Juli 2017 am Rondenbarg hemmungslos gewalttätig gewesen ist, steht außer Frage: die schon damals berüchtigte Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) der Bundespolizei aus Blumberg bei Berlin. Sie erwartete an diesem Morgen einen Aufzug von rund 220 Demonstranten, den »schwarzen Finger«, der vom Camp am Volkspark aufgebrochen war, um Protokollstrecken der Staatsgäste zu blockieren. Für viele Gipfelgegner und Anwälte steht außer Frage, dass am Rondenbarg ein Hinterhalt aufgebaut worden war, genau für diesen »Finger«, den die Polizei offenbar für besonders problematisch hielt.
Als der Aufzug in die Straße einbog, machten Wasserwerfer hinten dicht. Von vorn lief sofort die BFE gegen die Demonstranten an und zerschlug den Aufzug brutal innerhalb weniger Minuten, wie ein vom NDR-Magazin »Panorama« später publiziertes Video der Polizei zeigte. Die Demonstranten flohen in Panik, Polizisten prügelten Aktivisten mit den Worten »Das ist euer Frühstück, Antifafotzen!« eine hohe Mauer herunter. Dabei erlitten 14 Menschen zum Teil schwere Verletzungen.
Eine Farce ist das Verfahren aber auch deshalb, weil fast dreieinhalb Jahre nach dem G-20-Gipfel noch Anklage erhoben wird. Nach Informationen von jW hat diese Verzögerung auch damit zu tun, dass die zuständigen Kammern immer wieder argumentiert haben, sie seien voll mit Haftsachen. Es sei auch Kritik an der Staatsanwaltschaft zu hören gewesen, heißt es, dass mit dem Mammutverfahren – die rund 80 Angeklagten wurden auf vier Große Strafkammern verteilt – die Gerichte lahmgelegt würden. Der Jugendrichter Georg Halbach, der der Großen Strafkammer 27 vorsitzt, preschte schließlich vor und eröffnete den ersten Prozess in der Sache. Die Kammer soll dem Vernehmen nach die »konservativste« der drei Jugendkammern des Landgerichts sein.
Bemerkenswert ist neben all dem aber auch, dass für den ersten Prozess die fünf jüngsten Angeklagten ausgewählt wurden. Es sei für sie »eine unzumutbare Belastung«, über Monate einmal in der Woche Hunderte Kilometer anreisen zu müssen und dann in der Schule oder im Ausbildungsbetrieb zu fehlen, kritisierte der Hamburger Anwalt Matthias Wisbar, der einen der Angeklagten vertritt, in der vergangenen Woche gegenüber jW. Dass die Angeklagten zur Tatzeit noch unter das Jugendstrafrecht fielen, habe zudem zur Folge, dass die Öffentlichkeit »von Gesetzes wegen« während des gesamten Verfahrens ausgeschlossen ist, erklärte Wisbar weiter. Er vermutet, dass das der Staatsanwaltschaft gelegen kommt, weil so eine kritische Begleitung des Prozesses durch Medien und Prozessbeobachter kaum möglich ist.
Eine Farce ist der Prozess vor allem aber, weil keinem der fünf Angeklagten irgendeine konkrete Handlung vorgeworfen wird. Dass sie unter anderem des gemeinschaftlichen schweren Landfriedensbruchs und der gefährlichen Körperverletzung angeklagt sind, beruht allein auf einer hochumstrittenen Konstruktion. Die Hamburger Staatsanwaltschaft will wie schon im »Elbchaussee-Prozess« auf Biegen und Brechen ihre Interpretation des Strafttatbestandes Landfriedensbruch durchsetzen: Für die Anklage haben sich alle Teilnehmer des Aufzugs am Rondenbarg allein durch ihr Mitlaufen strafbar gemacht, müssen sich die wenigen Steinwürfe in Richtung der Polizei am Rondenbarg und die geringfügigen Sachbeschädigungen auf dem Weg dorthin zurechnen lassen. Sie haben demnach, wie die Staatsanwaltschaft es an anderer Stelle formulierte, »auf der Grundlage gemeinsamen Wollens einen die Tatbestandsverwirklichung erst ermöglichenden Beitrag« geleistet.
Wenn sich diese Lesart des Landfriedensbruchparagraphen durchsetzt, würde das bedeuten, dass das Rad zurückgedreht wird – in eine Zeit vor der Reform des Paragraphen in den 1970er Jahren, als schon die reine »Zusammenrottung« strafbar war. Wer dann künftig an einer Demonstration teilnehmen will, müsste sich das gut überlegen. Wenn nur an einer Stelle aus dem Aufzug ein Stein fliegt, könnten sich sämtliche Demonstranten vor Gericht wiedersehen – so wie es im Rondenbarg-Prozess voraussichtlich vorexerziert wird.