Es ist lediglich eine Frage der Zeit gewesen bis die Erdogan-Regierung auf das Erstarken der Linken im eigenen Land und die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete in Nordsyrien reagiert. Jetzt nutzt die türkische Regierung den verheerenden Anschlag von Suruc, um einen umfassenden Kampf gegen innere und äußere Gegner zu führen: Während türkische Truppen aktuell in drei Ländern kämpfen überziehen Polizei, Geheimdienst und Gerichte die türkische und kurdische Linke mit einer beispiellosen Welle der Repression. Unterstützung findet sie dabei bei ihren Nato-Partnern – so auch der BRD.
Zynischer Auslöser für geplante Eskalation
Am 20. Juli 2015 sprengte sich ein Attentäter des sogenannten “Islamischen Staates” (IS) im türkischen Suruc, nahe der syrischen Grenze, inmitten einer Pressekonferenz einer sozialistischen Jugendorganisation in die Luft. 32 Menschen starben sofort oder kurze Zeit später im Krankenhaus, etwa 100 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Die Jugendlichen hatten sich versammelt, um gemeinsam über die Grenze nach Kobani zu gehen und dort beim Wiederaufbau der vom IS zerstörten Stadt zu helfen.
Ihr Antrieb, als türkische Linke beim Wiederaufbau zu helfen, zogen sie auch aus der Ablehnung der türkischen Regierungspolitik die sie für die Zerstörung Kobanis mitverantwortlich machen. Diese Politik besteht seit Jahren darin, im Verbund mit anderen Golfstaaten, den IS und andere dschihadistische Gruppen in Syrien militärisch und finanziell aufzupäppeln. Einerseits um das Regime des regionalen Konkurrenten Assad zu bekämpfen, andererseits um Krieg gegen die fortschrittliche kurdische Selbstverwaltung in Rojava, im Norden Syriens zu führen. Die demokratische Selbstverwaltung der dortigen Kurdinnen und Kurden in Räten, die Zusammenarbeit verschiedener ethnischer Gruppen und Minderheiten, der Kampf gegen patriarchale Strukturen und der Aufbau von wirtschaftlichen Kooperativen, sind den reaktionären Regimen am Golf und der Türkei gleichermaßen ein Dorn im Auge.
Kampf gegen den IS? Kampf gegen die PKK, Rojava und Assad!
Die Regierung Erdogan nutzte die Empörung und Unsicherheit die auf den Anschlag von Suruc folgte sofort. Unter dem Vorwand gegen den IS und “andere terroristische Gruppen” vorgehen zu wollen, griff das türkische Militär schon vier Tage nach dem Anschlag Stellungen der kurdischen Arbeiterpartei PKK an. Während seitdem täglich vermeintliche und tatsächliche Gebiete der PKK im irakischen Kandil-Gebirge und im türkischen Teil Kurdistans angegriffen werden, wurde der IS durch die türkische Luftwaffe bisher genau drei mal (!) bombardiert. Aber damit nicht genug, auch die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete im Norden Syriens wurden mittlerweile mehrfach durch türkische Artillerie beschossen. Vor allem in den Kandil-Bergen wurden bei diesen Angriffen bisher zahlreiche ZivilistInnen ermordet und ganze Dörfer vernichtet.
Dass es bei den türkischen Angriffen mitnichten um die Schwächung des IS oder sogar der Islamisten generell geht, zeigt sich auch im von der Türkei initiierten und von der Nato unterstützten Projekt einer “Flugvebots-” und “Pufferzone” im Nord-Westen Syriens. Da der IS über keine Flugzeuge verfügt, richtet sich diese Maßnahme ausschließlich gegen das syrische Militär. Darüber hinaus verunmöglicht eine „Pufferzone“ die territoriale Verbindung der drei kurdischen Kantone zu einem zusammenhängenden Selbstverwaltungsgebiet. In der “Pufferzone” sollen sogenannte “moderate Rebellen” von der Türkei und weiteren Nato-Ländern ausgebildet und gegen Angriffe verteidigt werden. Diese “moderaten Kräfte” sind allesamt ebenfalls reaktionäre Islamisten, u.a. das Bündnis “Al-Sham”, deren wichtigste Kraft die “Al-Nusra-Front” ist – der syrische Ableger von Al-Quaida. Alle diese Kräfte zeichnen sich in den Augen der Türkei, der Golfmonarchien und ihrer westlichen Unterstützer dadurch aus, dass sie nicht nur gegen Assad kämpfen, sondern auch gegen die Selbstverwaltungsgebiete in Rojava und ihr demokratisch-fortschrittliches Projekt.
Der direkte türkische Eingriff in den syrischen Bürgerkrieg zum aktuellen Zeitpunkt ist dabei kein Zufall: Bis zum Oktober 2014 schien die Strategie, über die Unterstützung des IS einen Stellvertreterkrieg gegen das Regime Assads auf der einen Seite und die linken kurdischen Kräfte in Rojava auf der anderen Seite zu führen, auch weitgehend aufzugehen. Erst in Kobani wurde der Vormarsch des IS gegen die kurdischen Gebiete gestoppt. In den letzten Monaten konnten die kurdischen YPG (Volksverteidigungseinheiten) wieder große Gebiete vom IS befreien und Mitte Juni sogar die beiden Kantone Kobani und Cizre vereinen. So wurde der IS auch von einer seiner wichtigsten Nachschublinien aus der Türkei abgeschnitten. An dieser Stelle schleuste bis dato beispielsweise der türkische Geheimdienst MIT Waffen für den IS nach Syrien, während sich IS-Kämpfer in grenznahen türkischen Krankenhäusern behandeln lassen konnten.
Das Ziel: Aufbau einer autoritären Präsidialregierung
Der Krieg nach Außen ist aber nicht die einzige Aggression die mit dem Anschlag von Suruc gerechtfertigt wird. Wieder unter dem Vorwand gegen angebliche IS-Anhänger vorgehen zu wollen, wurden in den letzten Wochen weit über tausend türkische und kurdische Linke verhaftet. Mindestens eine Aktivistin wurde bei ihrer Festnahme erschossen. Gleichzeitig wurden Gedenkfeiern an die Opfer des Anschlags von Suruc und Friedensdemonstrationen verboten. Traditionell linke Stadtviertel z.B. in Istanbul werden seit Wochen von der Polizei abgeriegelt. Linke, kurdische oder alevitische Büros und Kulturzentren verwüstet und zerstört. Mittlerweile breitet sich diese Repressionswelle auch auf die wichtigsten parlamentarischen GegnerInnen Erdogans und seiner konservativ-autoritären AKP aus. Aktuell soll die parlamentarische Immunität der Vorsitzenden – bzw. der ganzen Fraktion – der oppositionellen HDP (Demokratische Partei der Völker) aufgehoben werden. Die HDP, die von verschiedenen kurdischen und linken Organisationen unterstützt wird, hatte bei den Parlamentswahlen im Juni überraschend die 10% geknackt und zog somit erstmalig als tatsächlich linke Opposition in das Parlament ein.
Damit verhinderte sie vorerst das zentrale Vorhaben des türkischen Präsidenten Erdogan: eine Verfassungsänderung, die ihm weitreichende Machtbefugnisse eingeräumt hätte. Die aktuelle Kriegspolitik und die Repression, inklusive dem Chaos das sie in den Städten mit sich bringt, soll also den Weg frei machen für Neuwahlen – dann mit einer geschwächten, ungefährlichen Opposition.
Und Deutschland? Mittendrin statt nur dabei!
Bei all dem ist die BRD nicht unbeteiligt. Als enger Verbündeter ihres Nato-Partners Türkei, leistet sie auf verschiedenen Ebenen Schützenhilfe für das Vorgehen der AKP-Regierung: Durch Waffenlieferungen und die Stationierung deutscher Soldaten und Patriot-Raketen an der syrischen Grenze – hauptsächlich aber durch das hiesige PKK-Verbot und die damit einhergehende permanente Repression gegen kurdische AktivistInnen in Deutschland.
Es gilt daher der Zusammenarbeit der herrschenden Klasse in der BRD und der Türkei, unsere internationale Solidarität von unten entgegenzusetzen! In der Türkei hat sich mittlerweile eine breite Bewegung quer durch die revolutionäre, sozialistische und kurdische Linke gebildet, die auf allen Ebenen – vom Parlament, über Demonstrationen, bis zu Straßenschlachten – die reaktionäre Kriegspolitik der Regierung Erdogan mit Widerstand konfrontiert. Und das mit wichtigen Teilerfolgen: Während die Umfragewerte der HDP steigen, haben linke Milizen in einigen Stadtteilen die Polizeiangriffe bewaffnet zurückgeschlagen.
Unsere volle Solidarität und Unterstützung gilt der spektrenübergreifenden linken Bewegung in der Türkei. Lasst uns diese Solidarität praktisch werden lassen und auch hier in der BRD gegen die türkische Repressions- und Kriegspolitik vorgehen. Sei es mit Kundgebungen und Demonstrationen, Aktionen gegen türkische Staatsvertretungen oder damit, dass wir die Rolle der BRD im Konflikt beleuchten: Die seichte Kritik führender Politiker am Abbruch des Friedensprozesses der Türkei mit der PKK darf nicht darüber hinweg täuschen, dass die BRD und ihre Rüstungskonzerne gleichzeitig Unterstützer und Profiteur der AKP-Politik sind.
Schluss mit den Angriffen auf die kurdische Freiheitsbewegung!
Schluss mit der Repression gegen die türkische und kurdische Linke!
Hoch die internationale Solidarität!
Rojava – eine revolutionäre Entwicklung
Als 2011 der legitime demokratische Protest gegen das autoritäre Assad-Regime, in einen blutigen Bürgerkrieg umschlug, setzten sich auf der Seite der Aufständischen schnell ultra-reaktionäre Islamisten als wichtigste Kraft durch. Ihr Ziel ist die Errichtung eines Kalifats nach den Regeln der Sharia. Anders in den kurdischen Gebieten im Norden Syriens, genannt Rojava: Hier gelang es der “Partei der demokratischen Union” (PYD) die Perspektive einer demokratischen und säkularen Gesellschaft Realität werden zu lassen. Mit Hilfe der militärischen Formationen der “Volksverteidigungseinheiten” (YPG) und der “Frauenverteidigungseinheiten” (YPJ), konnten die Vertreter des Assad-Regimes weitgehend ohne Gewalt und Zerstörungen entmachtet werden. Anstelle der alten Strukturen, wurde eine umfassende Rätestruktur eingesetzt, die alle gesellschaftlichen Belange regelt. Während im Rest Syriens und im Irak, die Konfrontation häufig entlang ethnischer und konfessioneller Spaltungslinien verläuft, wird in Rojava Wert daraufgelegt, dass alle gesellschaftlichen Minderheiten, Ethnien und Konfessionen in den Räten vertreten sind. Die Räte organisieren dabei nicht nur die öffentliche Verwaltung, sondern vielfach auch die Produktion im Rahmen von Kooperativen und ähnlichem. Ein zentrales Element des Umwälzungsprozesses in Rojava ist dabei die Befreiung der Frauen von patriarchalen Strukturen. So ist beispielsweise in allen wichtigen Gremien eine Frauenquote von 40% vorgeschrieben (zur Erinnerung: In Deutschland wird über eine Frauenquote in DAX-Aufsichtsräten diskutiert, wovon höchstens 100 ManagerInnen profitieren), jeder wichtige Posten muss mit mindestens einer Frau besetzt sein.
In diesem Prozess spielen auch KommunistInnen eine wichtige Rolle: So wird z.B. aktuell im stark zerstörten Kobani ein Krankenhaus von kommunistischen Freiwilligen aufgebaut. Mitte Juni gründete sich außerdem das “Internationale-Freiheits-Bataillon” zur Verteidigung der revolutionären Errungenschaften in Rojava. Es besteht aus kommunistischen InternationalistInnen aus der Türkei, Spanien, Griechenland, Deutschland und anderen Ländern.
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tatortkurdistan.blogsport.de
ciwaka-azad.org
International Freedom Batallion