Am Morgen des 18. Oktober 1977 sind Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe tot in ihren Zellen im Gefängnis Stuttgart-Stammheim gefunden worden. Sofort hieß es, die inhaftierten RAF-Mitglieder hätten Selbstmord begangen. Allen Zweifeln und anderslautenden Indizien zum Trotz. Gleichzeitig werden tausende Seiten Ermittlungsakten und unzählige Abhörbänder bis heute unter Verschluß gehalten. Gottfried Ensslin, Bruder der einstigen RAF-Mitbegründerin, fordert nun die rückhaltlose Aufklärung der Ereignisse in jener Todesnacht vor 30 Jahren. Es mache ihn “wütend”, daß angesichts der “ungeklärten Umstände und Widersprüchlichkeiten die Version vom gemeinsamen Selbstmord immer wieder festgeschrieben wird”, sagte er gegenüber junge Welt. Nicht nur, daß Irmgard Möller, die diese Nacht als einzige schwerverletzt überlebt hat, bezeugt, überfallen worden zu sein. “Was haben die Behörden bis heute zu verbergen, daß sie die Bänder nicht herausgeben, auf denen die akustische Überwachung der Zellen dokumentiert ist?” fragt Ensslin. Und weiter: “Wie konnte es in einem Gefängnis, das sich brüstete, eines der sichersten der Welt zu sein, ausgerechnet in den dramatischen Stunden nach der Geiselbefreiung von Mogadischu zu diesen angeblichen Selbstmorden kommen?” Es müßten endlich alle Fakten auf den Tisch. Ob Mord oder Selbstmord, das sei schließlich keine Glaubensfrage.

Auch der frühere RAF-Aktivist Helmut Pohl widerspricht der offiziellen Version vom kollektiven Selbstmord in Stammheim. Es habe keine Verabredung zum gemeinsamen Suizid gegeben. “Ich habe nie etwas von derartigen Diskussionen gehört, geschweige denn, daß ich an solchen teilgenommen hätte”, sagte Pohl in einem ausführlichen Gespräch über den “Deutschen Herbst”, das junge Welt am Mittwoch in einer achtseitigen Sonderbeilage veröffentlicht hatte. Er könne sich auch nicht vorstellen, daß es diese Überlegungen gegeben hat. “Für jeden von uns, der in den Knast kam, war klar, daß der Kampf mit der Gefangennahme nicht aufhört, sondern daß sich lediglich das Terrain änderte, auf dem man – wenn auch sehr eingeschränkt – handeln konnte.” Pohl selbst war im Sommer 1977 zusammen mit Ensslin, Baader, Raspe und Möller im siebten Stock in Stammheim inhaftiert, wurde vor dem “Deutschen Herbst” allerdings in eine andere Haftanstalt verlegt.

Ex-RAF-Mitglied Rolf Clemens Wagner sagte im jW-Gespräch, vor 30 Jahren seien nicht nur die Aktivisten der Roten Armee Fraktion von einem staatlichen Mord ausgegangen. “Direkt nach der Nacht von Stammheim haben wir niemanden getroffen – und das waren keinesfalls nur Linke, zu denen wir Kontakt hatten – die an Selbstmord geglaubt haben.” Vielmehr sei es “völlig logisch” erschienen, “daß am Ende genau die Leute tot waren, um deren Befreiung es gegangen war”. Dem Staat sei es um “Rache” gegangen, “um die Eliminierung der Kader”.

Bundesweit Aufsehen erregt hatten am Mittwoch einzig die Äußerungen Wagners über die Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer 1977. Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Rainer Brüderle sprach in der Bild von einem “Faustschlag ins Gesicht der Opferfamilien”. Der hessische Ministerpräsident und CDU-Vize Roland Koch nannte es ungeheuerlich, daß Wagner seinen “schrecklichen Irrweg” noch immer verteidige. Der bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU) betonte: “Wagner ist der Gnade, die ihm der damalige Bundespräsident Johannes Rau 2003 erwiesen hat, unwürdig.”

Womit hatte Wagner alle aufgeregt? Er sagte am Mittwoch in der jW-Beilage “deutscher herbst: “Manche Ergebnisse unserer Überlegungen bleiben auch aus heutiger Sicht richtig. Wie die Entscheidung, Hanns Martin Schleyer zu entführen. Der wurde mit seiner SS-Geschichte als Wehrwirtschaftsführer in besetzten Gebieten und seiner aktuellen Funktion als Aussperrer und Präsident des Unternehmerverbands ja nicht zufällig ausgesucht.” Es sei lediglich ein Fehler gewesen, daß aus dem “Politikum” Schleyer “einfach zu wenig gemacht” worden ist. “Gerade an ihm hätten wir unsere Analyse und Politik vermitteln können. Also die historische Kontinuität, für die er stand.” Damit hätten sie als RAF politisch arbeiten müssen. Immerhin, was vor 30 Jahren versäumt wurde, scheint jetzt gelungen. Wer auch immer Wagner zitierte, er mußte die Nazivergangenheit Schleyers mit thematisieren.

(18.10.2007 | Quelle: Tageszeitung Junge Welt | www.jungewelt.de) Von Rüdiger Göbel