In diesem Monat jährt sich zum 30. Mal die Nacht von Stammheim. Am Morgen des 18.10.1977 wurden die Gefangenen aus der RAF Andreas Baader und Gudrun Ensslin tot, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller schwer verletzt in ihren Zellen im Hochsicherheitsgefängnis von Stuttgart-Stammheim gefunden. Bis heute ist unklar, was damals genau geschah. Zum besseren Verständnis veröffentlichen wir in den kommenden Tagen das, was für die Vorgeschichte wichtig ist. (jW)

(1) Stammheim, der Staat und die RAF

Von Wolfgang Hänisch
Die Geschichte der Nacht vom 17. zum 18. Oktober 1977 beginnt am 2. Juni 1967 in einem Berliner Hinterhof.

dpa-Meldung: “Am Rand des Schah-Besuchs in Berlin kam es zu schweren Ausschreitungen vor der Berliner Oper. Linksradikale Demonstranten lieferten sich mit der Polizei eine regelrechte Straßenschlacht. Dabei soll es ein Todesopfer gegeben haben.”

Krumme Straße, Berlin-Charlottenburg: Greiftrupps der Polizei verfolgen einzelne Demonstranten, die es geschafft haben, dem Polizeikessel zu entkommen. Hartmut R. wird von mehreren Zivilbeamten in einen Hinterhof gezerrt. Benno Ohnesorg beobachtet die Szene und trennt sich an der Kreuzung Krumme Straße/Schillerstraße von seiner Frau, um zusammen mit anderen Demonstranten Hartmut R. zu Hilfe zu kommen. Im Hinterhof beginnen die Polizisten auf die Demonstranten einzuprügeln. Benno Ohnesorg wird von drei Polizisten traktiert, er hebt schützend die Hände. Karl-Heinz Kurras, Kriminalbeamter der Abteilung I der Politischen Polizei und bester Schütze seiner Einheit, zieht seine Pistole.

Ohnesorg schreit und fleht: “Bitte, bitte nicht schießen!”

Kurras schießt aus eineinhalb Metern Entfernung Ohnesorg in den Hinterkopf.

“Kurras, gleich nach hinten! Los, schnell weg!” kommandiert der Einsatzleiter und drängt zusammen mit anderen Polizisten die Fotografen ab. Ohnesorg stirbt noch im Krankenwagen. Eine Spurensicherung am Tatort findet nicht statt.

Bei der Obduktion des Toten am 3. Juni 1967 registriert der Pathologe Dr. Krauland Prellungen und Hämatome am ganzen Körper. Todesursache ist ein Gehirnsteckschuß. Krauland stellt zu seinem Erstaunen außerdem fest, daß ein sechs mal vier Zentimeter großes Knochenstück der Schädeldecke mit der Einschußstelle herausgesägt und die Kopfhaut darüber zugenäht worden war. Eine sofort angeordnete polizeiliche Suche nach dem Knochenstück bleib ergebnislos und Kurras im Polizeidienst. Am 21. November 1967 wird er von der 14. großen Strafkammer des Landgerichts Moabit von der Anklage wegen “fahrlässiger Tötung” freigesprochen.

Aus der Urteilsbegründung: “Es hat sich sogar nicht ausschließen lassen, daß es sich bei dem Abdrücken der Pistole um ein ungesteuertes, nicht vom Willen des Angeklagten beherrschten Fehlverhalten gehandelt hat.” In einer Revisionsverhandlung des Bundesgerichtshofs wird Kurras erneut aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Gudrun Ensslin sagt auf einer SDS-ersammlung am Abend des 2. Juni 1967: “Das ist die Generation von Auschwitz, mit denen kann man nicht diskutieren.” Der Kommandeur der Berliner Schutzpolizei, der für den Einsatz am 2. Juni 1967 verantwortlich war, heißt Hans-Ulrich Werner. Er war 1936 zur Polizei gegangen und 1943 Hauptmann der Gendarmerie und Kompanieführer der Sondereinheit “Bürger”. Diese war maßgeblich an der Vertreibung und Massenvernichtung von Sowjetbürgern beteiligt. Ende 1944 bis Kriegsende war Werner 1. Stabsoffizier beim SS- und Polizeiführer Oberitalien-Mitte, verantwortlich für die Ausarbeitung der Operationen der Gendarmerie- und Polizeikommandos gegen die Zivilbevölkerung.

Am 4. April 1968 wird Martin Luther King, Führer der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, in Memphis, Tennessee, erschossen. Eine Woche später wird Rudi Dutschke, Leitfigur der Studentenbewegung, bei einem Attentat in Westberlin schwer verletzt. Er stirbt 1979 an den Spätfolgen der Verletzungen.

Am 15. Juli 1971 wird Petra Schelm im Zuge einer Großfahndung nach Mitgliedern der im Vorjahr entstandenen RAF von der Polizei erschossen. Insgesamt werden in Westdeutschland und Westberlin von 1971 bis 1980 zwölf Menschen von der Polizei erschossen, die wegen des Verdachts verfolgt wurden, Mitglieder oder Unterstützer “terroristischer Vereinigungen” zu sein.

Insgesamt werden in diesen Jahren 150 Menschen von Polizeikugeln tödlich getroffen. Eine Untersuchung von 59 Todesschüssen in den Jahren 1980-1984 und deren Behandlung durch die Justiz ergibt folgendes Bild: In 76 Prozent der Fälle wurde keine Anklage erhoben. Von den verbleibenden 24 Prozent, die gerichtlich überprüft wurden, endeten vier Fälle mit einem Freispruch, drei mit einer Geldstrafe und sieben mit einer Haftstrafe zur Bewährung – die längste ein Jahr. In keinem einzigen Fall mußte ein Polizist den Dienst quittieren.

(2) Stammheim , der Staat und die RAF

Vor dem Kammergericht Berlin wird gegen Mitglieder der Bewegung 2. Juni – unter ihnen Fritz Teufel- wegen der Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz im Februar 1975 und der Ermordung des Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenckmann im November 1974 verhandelt. Die Angeklagten sitzen in geschlossenen Panzerglas-Kästen. Im Oktober 1980 fordern die Bundesanwälte in ihren Plädoyers Freiheitsstrafen von lebenslänglich bis 15 Jahre Gefängnis, da die Fülle von Beweismitteln zweifelsfrei die Teilnahme der Angeklagten an den ihnen zur Last gelegten Verbrechen belege. Am 178. Verhandlungstag meldet sich Fritz Teufel zu Wort: “Ich habe mir überlegt, was der Vorsitzende Jens sagen wird, wenn ich sage:›Ich habe ein Alibi‹. Womöglich wird er sagen‚Ihre Witze waren auch schon mal besser.” Trotzdem nennt Teufel Zeugen, die bestätigen können, daß er im fraglichen Zeitraum gar nicht in Berlin, sondern von April 1974 bis Mai 1975 unter dem Namen Jörg Rasche in einem Essener Preßwerk als Maschinenarbeiter im Dreischichtbetrieb beschäftigt war und im Essener Stadtteil Frintrop eine Wohnung gemietet hatte. Fritz Teufel wird wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu fünf Jahren Haft verurteilt, die durch die Untersuchungshaft verbüßt sind.

Der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart verhandelt 1984 in Stammheim gegen Peter-Jürgen Boock. Er wird u.a. beschuldigt, 1977 an den RAF-Anschlägen auf Jürgen Ponto und Hanns-Martin Schleyer beteiligt gewesen zu sein. Es geht dabei in der Verhandlung u.a. um die Frage, ob Boock zum Zeitpunkt der ihm zur Last gelegten Taten wegen Drogenabhängigkeit vermindert schuldfähig gewesen ist bzw. überhaupt in der Lage war, diese Taten zu begehen. Der Sachverständige Professor Rauch: “Ich habe Boock auch körperlich untersucht. Bei ihm war nichts zu finden. Die Untersuchung hat keinerlei Anhaltspunkte erbracht, dass er injiziert hat.” Die Gutachtertätigkeit von Professor Rauch reicht zurück bis ins Jahr 1945. Damals hatte er folgenden Fall zu begutachten: Ein Soldat, der bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren wegen “hochgradigen Schwachsinns” als nicht zurechnungsfähig beurteilt und von den Nazis deswegen zwangssterilisiert worden war, war 1944 als Soldat eingezogen worden und seinem Unteroffizier als “schwachsinnig” aufgefallen. Der Soldat wurde zur Begutachtung in die psychiatrische Klinik in Heidelberg geschickt. Gutachter war Professor Rauch, damals Militärstabsarzt: Soldat und Unteroffizier betreten das Zimmer des Herrn Rauch, worauf dieser den Soldat anschreit: “Stehen Sie stramm! Machen Sie mir nichts vor! KV (= kriegsverwendungsfähig)!” Die Begutachtung hatte eine Minute gedauert, der Soldat wurde auf Grund dieser Beurteilung vom Divisionsgericht als Simulant betrachtet und wegen Zersetzung der Wehrkraft zum Tode verurteilt.

Bei der Revisionsverhandlung vor dem 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart kommt der Sachverständige Professor Dr. Bschor zu folgender Beurteilung: Alle größeren Ober- und Unterarmvenen beider Arme sind “verödet”, auf der Haut sind unzählige Einstichnarben zu erkennen. Von mehreren tausend Injektionen ist die Rede. Nach Boocks Angaben hat er sich knapp zweitausendachthundertmal die Spritze gesetzt. Boock wird zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

(3) Stammheim, der Staat und die RAF

Edgar H. Schein, Leiter der Sozialpsychologischen Abteilung des Walter Reed Army Institute of Research in Washington, DC legt 1961 seine “an Kriegsgefangenen im Koreakrieg gesammelten Erfahrungen für die erfolgreiche Anwendung von Verhaltensänderung und Gehirnwäsche” dem Federal Bureau of Prisoners vor. Auszug: “Verlegung der Gefangenen in Bereiche, die ausreichend isoliert sind, damit emotionale Beziehungen erfolgreich abgebrochen oder ernsthaft geschwächt werden können. Verbot von Gruppenaktivitäten, die nicht im Einklang mit den Zielen der Gehirnwäsche stehen. Bespitzelung von Gefangenen und Weitergabe von persönlichem Datenmaterial. Systematisch die Post vorenthalten. Den Kontakt zu all denen verhindern, die nicht mit den Behandlungsmethoden und der Kontrolle über die Gefangenen übereinstimmen. Techniken zur Charakterschwächung wie: Erniedrigung, Verunglimpfung, Schreien anwenden, um Gefühle der Schuld, Angst und Beeinflußbarkeit, in Verbindung mit Schlafentzug, strengem Knastregime und regelmäßig wiederkehrenden Verhören auszulösen.”

Anschließend macht Edgar H. Schein am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge eine steile akademische Karriere. Er wird zu einem der “Päpste” der Unternehmensberatung auf den Gebieten der Unternehmenskultur und Organisations- und Prozeßentwicklung. Er berät internationale Großkonzerne wie Procter+Gamble, Exxon, Shell, BP, Motorola, Saab, Apple, Citibank etc.

Am 16.9.1975 wird vom Arzt Folker Stöwsand ein Gutachten über die Haft- und Verhandlungsfähigkeit von Irmgard Möller vorgelegt. Auszug: “Die Patientin befindet sich seit dem 8.7.1972, also seit mehr als drei Jahren, in ununterbrochener Isolationshaft. In den einzelnen Anstalten fanden sich folgende Haftbedingungen:

1. Bühl. Dauer: 6 Monate. Die Zellen, die die Zelle der Patientin umgaben, waren nicht belegt. Es befand sich ein Lautsprecher in der Zelle, der lediglich laut-leise verstellbar war. Hofgang einzeln. Einzelbad. Einkauf nach Bestellzettel. 1mal Teilnahme am Gottesdienst, dabei von mehreren Beamten von den anderen Gefangenen isoliert. In den 6 Monaten zweimal Besuch von Mutter und Schwester, dabei immer Kriminalbeamte anwesend. Nach 4 Monaten zum ersten Mal Bücher erhalten.

2. Nürnberg. Dauer: 6 Wochen. Zelle in der völlig geräumten obersten Etage, die Etage darunter war ebenfalls geräumt. Das Fenster war aus Milchglas und mit einem Spalt versehen. Es bestand Sprechverbot mit den Wärtern. Die Tür war nur zum Einzelhofgang geöffnet. Nachts wurde die Patientin ständig durch mehrfaches kurzes Lichtanschalten geweckt. Die Patientin hatte ein Radio ohne Lautsprecher, lediglich Kopfhörer. Besuch von Angehörigen zweimal. Besuch vom Anwalt einmal in mehreren Wochen. Nachts kein einziger akustischer Reiz, außer den Geräuschen der Sprechfunkgeräte und dem Bellen der Schäferhunde. Jedes dieser Geräusche verursachte ein Herzjagen. Die Patientin wurde dadurch in einen ständigen Angstzustand versetzt. In diese Zeit fällt der erste Hungerstreik (Januar 1973). Der Patientin wurde Trink- und Toilettenwasser abgestellt. Sie mußte den Hungerstreik nach einer Woche abbrechen.

3. Rastatt. Dauer: 2 ½ Monate. Die Zelle ist sehr klein. Vor dem Fenster eine Eisensichtblende. Geräusche nur von der Straße her. Da hier eine stark befahrene Kreuzung liegt, starker Verkehrslärm. Nach der Auffassung der Patientin befanden sich in den Nachbarzellen ausgesuchte Häftlinge, die die Aufgabe hatten, bei der gleichzeitigen Essensausgabe Kontakt zu ihr aufzunehmen, um ihr Informationen zu entlocken. Unter den Bedingungen der Isolationshaft ist die Patientin weder haft- noch verhandlungsfähig.”

Gegen diese Haftbedingungen treten die betroffenen Gefangenen mehrmals in den Hungerstreik. In der JVA Wittlich ist Holger Meins seit dem 13.9.74 im Hungerstreik und wird seit 30.9.1974 zwangsernährt. Am 9.11.1974 stirbt Holger Meins. Am 10.11.74 sagt Rechtsanwältin Marie-Luise Becker auf einer Pressekonferenz: “Ich möchte noch auf folgende Tatsache hinweisen, nämlich daß Herr Meins zu keinem Zeitpunkt während der Zwangsernährung die ausreichende Menge an Kalorien erhalten hat, die garantieren könnte, daß er nicht langsam verhungert.Das heißt also klar, daß der Arzt, der die Zwangsernährung durchgeführt hat – ohne die Person auch nur anzusehen -, wissen mußte, daß er verhungert.”

(4) Stammheim, der Staat und die RAF

Ab dem 21.5.1975 verhandelt der 2. Strafsenat des Stuttgarter Oberlandesgerichts gegen die RAF-Mitglieder Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Jan Carl Raspe und Gudrun Ensslin. Vorsitzender Richter ist Dr. Theodor Prinzing. Der dritte Strafsenat beim Bundesgerichtshof ist Beschwerde- und Revisionsinstanz für diesen RAF-Prozeß. Sein Vorsitzender ist der Bundesrichter Albert Mayer.

Dr. Herbert Kremp ist Chefredakteur der Tageszeitung Die Welt und war in derselben Studentenvereinigung wie Alfred Mayer. Am 20.7.76 schreibt Alfred Mayer einen Brief an seinen “Lieben Cartellbruder Kremp”. Darin bittet Herr Mayer Herrn Kremp unter hilfenahme von Kopien der kriminalpolizeilichen Vernehmung von Gerhard Müller, die ihm Herr Prinzing privat hat zukommen lassen, einen Artikel in der Welt zu plazieren, der geeignet ist, die Glaubwürdigkeit von Otto Schily, Verteidiger im RAF-Prozeß, zu erschüttern. “Es wäre mir lieb, wenn die übersandten Unterlagen (…) nach Gebrauch vernichtet würden”, heißt es am Schluß des Briefes.

Gerhard Müller ist Kronzeuge im RAF-Prozeß. Eine gesetzliche Kronzeugenregelung wird erst 1987 eingeführt. Von Müllers Vernehmung im Ermittlungsverfahren existieren Protokolle, die nicht in der Strafakte enthalten waren, die Akte 3 ARP 74/75 I. Als die Verteidigung die Herausgabe der Akte verlangt, macht sie Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel (SPD) per Sperrvermerk zur Geheimakte. Bis heute sind zwölf bis 15 Seiten dieser Akte unter Verschluß.

Gerhard Müller zu seiner eigenen Glaubwürdigkeit: “Ich kann über die (die Angeklagten) erzählen, was ich will, man wird mir alles glauben, weil man auf so einen Zeugen ja sicherlich gewartet hat.” Gerhard Müller ist heute offiziell “unauffindbar”, unbestätigten Berichten zufolge soll er mit Hilfe der CIA mit einer neuen Identität und 500000 DM (250000 Euro) ausgestattet in den USA leben. Die Bundesanwaltschaft bestreitet vehement, daß dem Kronzeugen irgendwelche Vergünstigungen gewährt wurden. So wie Volker Speitel, der mit personeller und finanzieller Unterstützung des Bundeskriminalamtes in Brasilien eine Werbeagentur aufbaut, die bald Broschüren für VW do Brasil produziert. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wird Speitel 1985 Presse- und Werbechef des Wohnmobilherstellers Westfalia, der eng mit der Volkswagen AG kooperiert. Nach Bekanntwerden seiner wahren Identität verschwindet Speitel wieder mit Hilfe des BKA und ist bis heute untergetaucht. Der damalige Generalbundesanwalt Rebmann meinte anschließend: “Ja, die Kronzeugen von damals bekamen Vergünstigungen, sie erhielten eine neue Identität, auch Geld und wurden dann ins Ausland gebracht.”

(5) Stammheim, der Staat und die RAF

Das Trainingszentrum der CIA in Williamsburg, USA, heißt Camp Peary. Es wird auch “The Farm” genannt. Dort bekommen alle CIA-Mitarbeiter ihre militärische Grundausbildung, und Angehörige der Spezialeinheiten wie Delta Force, SEAL Six, Marine Recon erhalten hier eine Zusatzausbildung. Zur Standardbewaffnung der Agenten gehört die Pistole Walther PPK, die Walther P-38 mit Zusatzschalldämpfer oder das amerikanische Scharfschützengewehr M1903A4 Springfield. Der Leiter des Office of Technical Services (OTS), Dr. Sidney Gottlieb, sagt: “Im Rahmen des Programms MK Ultra haben wir hochgiftige Biotoxine hergestellt, die in geringsten Mengen tödlich sind und von Gerichtspathologen nicht nachgewiesen werden können.”‚

Das Institute for the Study of Conflict legt 1975 in London eine Studie zur Terrorismusbekämpfung vor. Sie bezieht sich auf das Gebiet der NATO-Staaten. Der Zentrale Schlußfolgerungen sind: “Infiltration der Guerilla-Gruppen, Ausschaltung der Kader, international abgestimmtes Vorgehen.” Hans Langemann, BND-Mitarbeiter und im bayrischen Innenministerium zuständig für den Verfassungsschutz: “Es ist an eine verdeckte Operation gedacht, die im wesentlichen in drei Phasen ablaufen soll: a) Erfassung der Planungen, b) Eliminierung des europäischen Führungskaders, c) Eindringen in den Kern der Guerillaeinheit und deren Liquidierung. Der Herr Staatsminister Dr. Alfred Seidl ist davon in Kenntnis gesetzt.”

(6) Stammheim, der Staat und die RAF

Köln, 5. September 1977. Ein 450er Mercedes fährt gegen 17.25 Uhr die Friedrich-Schmidt-Straße entlang. In dem Wagen sitzen der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Hanns Martin Schleyer, und sein Fahrer Heinz Marcisz. In einem zivilen Polizeifahrzeug folgen die Personenschützer Reinhold Brändle, Roland Pieter und Helmut Ulmer. Ein blauer Kinderwagen, der auf der Straße steht, zwingt Marcisz zu einer Vollbremsung. In diesem Moment eröffnen fünf Maskierte das Feuer. Alle außer Schleyer sterben im Kugelhagel. Schleyer wird aus dem Wagen gezogen und in einen VW-Bus geschleppt. Er wird Geisel des RAF-Kommandos Siegfried Hausner.

Prag, 5. Mai 1945, Aufstand gegen die Nazi-Besatzungsmacht. Im Schulgebäude des 4. Bezirks hat sich eine SS-Einheit verschanzt, die zwanzig Geiseln, Beschäftigte der Firma Janeceln, in ihrer Gewalt hat. Die tschechischen Aufständischen verhandeln mit dem SS-Kommandanten über die Freilassung der Geiseln. Dieser verlangt dafür im Gegenzug, daß seine Frau und sein Kind herbeigebracht werden sollen. Um Mitternacht wird die Frau, die ein kleines Kind auf dem Arm trägt, mit einem Auto zum Schulgebäude gebracht und gegen die Geiseln ausgetauscht. Die Aufständischen ziehen sich zurück. Einen Tag später richtet die SS in unmittelbarer Nähe des Schulgebäudes ein Massaker unter der Zivilbevölkerung an: Im Keller des Hauses 253 und im Garten des Hauses 254 werden 41 Menschen erschossen aufgefunden: unbewaffnete ältere Männer, Frauen und Kinder.

Am 8. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation, bringt eine SS-Einheit Geiseln aus der Prager Zivilbevölkerung in ihre Gewalt, setzt sich aus Prag ab und erreicht abends die amerikanischen Linien, wo sie sich gefangennehmen läßt. Der Führer dieser SS-Einheit wird als gedrungener, breitgesichtiger Mann mit dicken Lippen und Mensurnarben auf der Wange beschrieben, dessen Namen auf “Meier oder so ähnlich” endet. Der einzige SS-Führer in Prag, auf den die Beschreibung passen könnte, ist Hanns Martin Schleyer. Er ist zu diesem Zeitpunkt 30 Jahre alt, seine Frau hatte ihm am 1. November 1944 einen Sohn geboren.

Seit 1931 Mitglied der HJ, dann der SS und der NSDAP. Jurastudium in Heidelberg, dort “Amtsleiter” des NS-Reichsstudentenwerks, einer Tarnorganisation des Sicherheitsdienstes (SD); Mitunterzeichner eines Denunziantenberichts an das badische Ministerium für Kultur und Unterricht; 1938 Leiter des NS-Reichsstudentenwerks in Innsbruck, ab 1941 in Prag, dort als SS-Führer und Leiter des Präsidialbüros im Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren in Prag tätig.

Hanns Martin Schleyer 1975 bei einem Empfang des BDA-Präsidiums zu seinem 60. Geburtstag: “Es kam die Zeit des Dritten Reichs, bei dessen Ausbruch ich 17 Jahre alt war, und ich scheue mich gar nicht zu erklären, daß für uns Jugendliche damals ein Auftrieb sichtbar wurde, dem wir uns zur Verfügung stellten: Ich trat sofort in den freiwilligen Arbeitsdienst ein und freute mich in Wirklichkeit auch darüber, daß der Klassenkampf, der sich in den furchtbarsten Formen auf den Straßen abgespielt hatte, nun ein Ende nehmen konnte.”

(7) Stammheim, der Staat und die RAF

Auf die Geiselnahme von Hanns Martin Schleyer durch die RAF im September 1977 antwortet der Staat mit einer Gegengeiselnahme. Über alle Gefangenen, die nach Paragraph §129 a angeklagt oder verurteilt sind, wird eine “Kontaktsperre” verhängt, d.h. sie werden untereinander und von jedem Kontakt mit der Außenwelt vollständig isoliert.

Darunter fällt auch der Kontakt mit ihren Verteidigern. So finden z.B. mündliche Haftprüfungstermine ohne Verteidiger statt, bei der Verkündung des Haftbefehls hat der Rechtsanwalt kein Recht auf Anwesenheit, Vernehmungen und Ermittlungsverhandlungen werden nur durchgeführt, wenn der Rechtsanwalt auf seine Anwesenheit verzichtet. Für dieses Vorgehen gibt es keinerlei gesetzliche Grundlage, auch wenn die Justizminister sich auf Paragraph 34 StGB, der einen übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand vorsieht, berufen. Paragraph 34 StGB ist jedoch eine Ergänzung der reformierten Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch. Er war zum Zeitpunkt der Kontaktsperre nicht zur Legitima-tion staatlichen Handelns gedacht.

Und so wird innerhalb von drei Tagen das bisher am schnellsten verabschiedete Gesetz in der Geschichte der BRD installiert: das Kontaktsperregesetz. Sowohl die Kontaktsperre wie auch in der Folge eine Nachrichtensperre über die Ereignisse um die Schleyer Entführung werden von einem Großen Krisenstab in Bonn angeordnet. Eine solche Einrichtung ist in der Verfassung, auch in der Notstandsgesetzgebung, nicht vorgesehen. Die Gewaltenteilung wird aufgehoben, das Parlament hat keinerlei Kontrolle über die Aktivitäten des Krisenstabs.

8.9.1977, Krisenstab. Innenstaatssekretär Siegfried Fröhlich war von Bundeskanzler Schmidt beauftragt, mit einem Beamten seines Hauses und Geheimdienstexperten “exotische Vorschläge” zur Lösung des Terrorproblems zu erarbeiten. Er berichtet über verschiedene “Modelle”: Drohung gegenüber Terroristen mit “Repressalien” auch gegen nahe Angehörige, wenn Schleyer nicht freigegeben werde. Der Bundestag ändert unverzüglich Artikel 102 des Grundgesetzes, der lautet: “Die Todesstrafe ist abgeschafft”. Statt dessen können solche Personen erschossen werden, die von Terroristen durch menschenerpresserische Geiselnahme befreit werden sollen. . Keine Rechtsmittel möglich. Für Terroristen wird ein erweitertes Haftrecht geschaffen. Sie werden in einem “”Internierungslager” festgehalten.

Friedrich Zimmermann, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Bundestag und Mitglied im Krisenstab zu dessen Tätigkeit: “Der Leutnant Zimmermann, der Oberleutnant Schmidt und der Oberleutnant Strauß wußten, was Krieg war.” Am 17.10. sagt der Publizist Golo Mann in der ARD-Sendung “Panorama”: “Der Moment kann kommen, in dem man jene wegen Mordes verurteilte Terroristen, die man in sicherem Gewahrsam hat, in Geiseln wird verwandeln müssen, indem man sie den Gesetzen des Friedens entzieht und unter Kriegsrecht stellt.

(8 und Schluß) Stammheim, der Staat und die RAF

Mogadischu, 18.10.1977. Um 0.05 Uhr MEZ stürmt ein GSG-9-Kommando die vom palästinensischen Kommando “Martyr Halimeh” entführte Maschine der Luft-hansa. Drei der vier Geiselnehmer werden dabei getötet. Im Hochsicherheitsgefängnis von Stuttgart-Stammheim werden am Morgen die Gefangenen aus der RAF Andreas Baader und Gudrun Ensslin tot, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller schwer verletzt in ihren Zellen gefunden. Am 19.10. gibt die RAF bekannt, Hanns Martin Schleyer umgebracht zu haben. Seine Leiche findet sich im Kofferraum eines geparkten Autos im französischen Mulhouse.

Weder auf den beiden Pistolen noch auf dem Kabel, mit dem Gudrun Ensslin zu Tode kam, befinden sich Fingerabdrücke der Gefangenen. Das kriminaltechnische Gutachten dazu fehlt. Auf demselben Flur findet die Kripo in Zelle 712, die ab dem 25.6.1977 nicht belegt war, bzw. nicht von Gefangenen der RAF belegt war, neben zahlreichen Kabelteilen vier tragbare Monitore, vier Batteriestangen mit 12 Monozellen und weitere elektronische Geräte. Die vier tragbaren Monitore werden vom BKA sichergestellt, die Kripo kündigt einen ausführlichen Untersuchungsbericht an (Akten des Todesermittlungsverfahrens XII, S. 40), der nie eintrifft. Im November 1977 ordnet Generalbundesanwalt Kurt Rebmann den Abbruch der Zellen im Sicherheitsbereich an. Dadurch werden alle eventuell noch vorhandenen Spuren beseitigt.

(08.10.2007 bis 16.10.2007 | Quelle: Tageszeitung Junge Welt | www.jungewelt.de)