“In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.” Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, 1940
“Ich baue jetzt aus meiner Schreibmaschine eine Axt.” Ulrike Meinhof in einem Brief vom 3.4.1973
Nach mehrfachen Ankündigungen ist sie nun endlich da, “die” Biografie Ulrike Meinhofs von Jutta Ditfurth. Eine Erleichterung nach dem ganzen Rummel zum dreißigsten Jahrestag des “Deutschen Herbstes”, auch wenn das Medienestablishment um Spiegel, Stern und Welt schon über sie hergefallen ist, bevor es auch nur etwas daraus gelesen hatte.
Obwohl die Autorin es sich nicht leicht gemacht und an die 7000 Quellen durchgeackert hat, ist ihre Arbeit der schlichte Versuch, Ulrike Meinhof auf die Füße zu stellen. Es ist ihr gelungen, Ulrike Meinhofs Lebenslauf so darzustellen, dass vor allem junge Leser sich von ihrer Person und der Zeit, in der sie gelebt hat, ein besseres Bild machen können als aus dem, was bisher über “die Stimme der RAF” veröffentlicht worden ist. Die Autorin hat weitgehend auf die in diesem Zusammenhang üblichen Deutungen und Bewertungen verzichtet, und widerlegt so manche Legenden die von Bekannten und Verwandten über die Jahre gepflegt worden sind. So etwa, dass Ulrike Meinhof die Absicht gehabt hätte, ihre Kinder in ein palästinensisches Flüchtlingslager zu stecken. Oder, dass sie in der Entwicklung der RAF in etwas reingerutscht sei das sie nicht selbst bestimmt bzw. mitbestimmt habe. Die Biografie zeichnet Ulrike Meinhofs Werdegang zur engagierten Kommunistin, Journalistin und RAF-Gründerin in einer Zeitspanne (1934-1976), die von Faschismus, Krieg, Restauration, Kommunisten-verfolgung und Widerstand geprägt war. Schwierige Kinder- und Backfischjahre, Verlust der Eltern, die ersten Artikel in der Schulzeitung, Studium, Eintritt in SDS und KPD, Anti-Atomkongress, Artikel für “argument” und “konkret”, Chefredakteurin, Heirat, Kinder, APO, Rundfunk- und Fernsehbeiträge, RAF, Gefangenschaft. Der Stil des Buches ist sachlich aber spannend, ohne künstliche Distanz. An manchen Stellen entsteht der Eindruck, dass der immer noch umfangreiche Text aus Platzmangel drastisch gekürzt worden ist – so etwa am Ende des Kapitels “Grenzgängerin” über die Periode Westberlin 1969, in der sich der Draht manchmal zu verlieren scheint.
Ursprünglich sollte die Biografie “zahlreiche Fotos” enthalten. Von dem zuletzt versprochenen “8 Seiten s/w Bildteil” ist aber nichts geblieben, wahrscheinlich weil das Buch den formellen Erben der Bildrechte nicht gepasst hat. Das schöne Bild einer reifen ernsthaften Persönlichkeit, das für den Umschlag vorgesehen war, ist somit leider nicht benutzt worden. Auch die ominöse, nicht weiter erklärte Andeutung im Buch, Ulrike Meinhof “habe sich nicht trotz der Kinder scheiden lassen, sondern um sie zu schützen”, lässt vermuten, dass der Autorin da den Mund geschnürt worden ist, um juristische Konsequenzen aus dem Weg zu gehen. Das könnte ebenfalls eine Erklärung dafür sein, dass Ulrike Meinhof im letzten Teil der Biografie, zu ihrer Zeit in der RAF und im Gefängnis, so wenig selbst zu Wort kommt.
Was ich jedenfalls vermisse in diesem Werk, ist eine Darstellung der Bedeutung Ulrike Meinhofs für die, die mit ihr in der Illegalität und in der Gefangenschaft gekämpft haben. Zwar kann keine Biografie beanspruchen, ein genaues und komplettes Bild einer Person abzugeben. Es ist sicher nicht leicht, an authentischen Informationen zu kommen, insbesondere über die Zeit, in der die Privatperson Ulrike Meinhof Teil eines illegalen Kollektivs geworden war. In der gesamten Literatur zur RAF gibt es kaum Dokumente der Gruppe, die nicht zerstückelt, verfälscht, umgedeutet, übertrieben oder aus ihrem Zusammenhang gerückt benutzt worden sind. Eine kritische, politische und halbwegs umfassende Geschichte der RAF, die auch die durchgehends verschütteten individuellen und kollektiven Lernprozesse in der Gruppe vermittelt, steht bis jetzt aus.
Umso mehr wäre es angebracht gewesen, sich auf die Primärquellen zu beschränken, Originaltexte heranzuziehen und glaubhaftere Zeugen aufzutreiben als die, die aus den drei Kapiteln über die RAF den schwächsten Teil dieser Biografie gemacht haben. Nicht nur mit vermeintlichen Dumdum-Geschossen der RAF ist Jutta Ditfurth den von ihr selbst kritisierten Geschichtsklitterungen auf den Leim gegangen. So wird Margrit Schiller zitiert zu Zeitabschnitten, die sie höchstens vom Hören-Sagen kennen kann, weil sie zu der Zeit im Gefängnis war. Und Peter Jürgen Boock, der nachweislich an keinem Moment im Jahr 1972 in der RAF war. Dass Manfred Grashof in einer chaotischen Schiesserei die tödliche Kugel auf Kriminalhauptkommissar Hans Eckhardt abgefeuert hat, ist ebensowenig bewiesen als die von ihren Genossen bestrittene Teilnahme Ulrike Meinhofs am Anschlag auf das Springer-Hochhaus. Für die Kaufhausbrände im April 1968 wird als Grund wieder einmal das My Lai Massaker angeführt, obgleich dieses erst im November 1969 bekanntgemacht wurde.
Leider fehlt in diesem Buch auch nicht das Ditfurthsche Steckenpferd – der Antisemitismus. Seitdem der jüdischen Gemeinschaft unter der Naziherrschaft ein Grossteil ihrer linken, kommunistischen und progressiven Intellektuellen genommen worden ist, muss der Antisemitismus-Vorwurf immer dann hinhalten, wenn eine durchaus breite unkritische Haltung zur Politik Israels tabuisiert und Kritik an diesem Staat abgeschmettert werden soll. Der von Ulrike Meinhof einmal angestellte Vergleich Moshe Dayans mit Himmler, wenngleich in einem ganz bestimmten Zusammenhang, mag überzogen gewesen sein, die Anspielung auf “antisemitische Ausfälle” hätte diese Antifaschistin und Internationalistin aber berechtigterweise weit von sich gewiesen.
Einen ersten Versuch, einigen Wahrheiten über Ulrike Meinhof näherzukommen, hatte Mario Krebs schon in 1988 unternommen. Seine sicher nicht RAF-freundliche Biografie wurde nur unter der Bedingung veröffentlicht, dass ein Brief seines Herausgebers mit abgedruckt wurde, der sich “eine grössere Distanz gewünscht” hätte. Trotz ihrer wohlbekannten Distanz zur RAF ist auch Jutta Ditfurth schon kritisiert worden, weil sie es überhaupt gewagt hat, Ulrike Meinhof zu thematisieren. Anscheinend muss jede inhaltliche Auseinandersetzung mit der Geschichte der RAF, die nicht von vornherein auf Denunziation aus ist, tabu bleiben. Schon deshalb soll diese Biografie gelesen werden!
Jutta Ditfurth, Ulrike Meinhof. Die Biographie, Ullstein, Berlin 2007. ISBN 978-3-550-08728-8. Geb. 480 S., € 22,90
Der Autor dieses Textes, Ron Augustin, Niederländer, war seit 1971 in der RAF organisiert und kannte Ulrike. Ron wurde am 23.07.1973 bei seiner Einreise in die Bundesrepublik im Zug festgenommen. Verurteilt wurde er (Prozeß 1975 in Lüneburg) wegen Mitgliedschaft in der Roten-Armee-Fraktion u.a. Er wurde zu 6 Jahren Haft verurteilt. Desweiteren erhielt er eine 6-monatige Beugehaft, die er wegen Aussageverweigerung im Prozeß gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe erhielt, plus weiterer Ordnungsstrafen aus seinem eigenen Prozeß.
(12.12.2007 | Quelle: Tageszeitung Junge Welt | www.jungewelt.de)