Im ersten Pandemiesommer 2020 spitzten sich die sozialen Widersprüche im öffentlichen Raum zu. Während die Einen das Eigenheim oder den privaten Garten nutzten, um sich mit Freund:innen und Bekannten zu treffen, blieb den Anderen nur der öffentliche Raum. Insbesondere in den Großstädten führte das in den Wochenend-Nächten zu größeren Ansammlungen auf den Straßen und Plätzen. Es waren vor allem Jugendliche aus der Arbeiter:innenklasse, viele mit migrantischem Hintergrund, die die Städte mit Leben füllten. Auf der anderen Seite stand ein Polizeiapparat, der auf die Verhinderung jeglicher sozialer Regungen im öffentlichen Raum ausgerichtet war.

So auch in Stuttgart, einer Stadt, in der die Bullen den städtischen Raum seit Jahrzehnten besonders repressiv kontrollieren und auch in jenem Sommer ihrem Ruf treu blieben: Mit regelmäßigen rassistischen Schikanen, gewalttätigen Angriffen und einer martialischen Überpräsenz in der Innenstadt an den Wochenenden schufen sie die richtige Stimmung dafür, dass es irgendwann knallt. Es ist kein Zufall, dass sich die sozialen Widersprüche gerade hier derart fulminant in der „Krawallnacht“, am 20. Juni 2020 entluden. Dass dahinter aber eine allgemeinere Entwicklung steht, zeigen ähnliche Riots in anderen Großstädten in den Sommermonaten 2020 und 2021: Unter anderem in Frankfurt, Heidelberg und Augsburg .

In diesem Text wollen wir anlässlich mehrerer Verfahren, in denen Linke nun wegen der vermeintlichen Beteiligung an der Krawallnacht vor Gericht stehen, einen Blick zurück auf die politischen Dimensionen des spontanen Ausbruchs werfen und ein paar Worte zum Verhältnis zwischen revolutionärem Aufbau und sozialen Unruhen verlieren.

 

Stress ohne Grund?

Was bewegt die Polizei dazu, derart akribisch und konfliktorientiert gegen Menschen, die sich auf öffentlichen Plätzen versammeln, vorzugehen? Hierzu ist zuerst einmal festzustellen, dass der öffentliche Raum immer ein umkämpftes Terrain ist, auch wenn die Bezeichnung etwas anderes suggeriert. Im Kapitalismus sind die Straßen und Plätze keineswegs für alle da. Es kommt darauf an wer man ist und für welche Zwecke man den Raum nutzen möchte. Der Stuttgarter Eckensee, der Ausgangspunkt des Riots am 20. Juni 2020 ist dafür ein gutes Beispiel. Jahrelang feierten hier die Wohlhabenden und Etablierten der Stadt das „Stuttgarter Sommerfest“ mit Delikatessen und Champagner satt. Kundgebungen und Demonstrationen hingegen sind, aufgrund der „Bannmeile“ rund um den Landtag, auf weiten Teilen des Areals grundsätzlich verboten. Und auch vor Corona mussten diejenigen, die sich dort mit selbst mitgebrachter Verpflegung niederließen, um entspannt abzuhängen, mit polizeilichen Kontrollen rechnen. Der Raum ist, wie die vielen anderen Plätze der Stadt, für die kapitalistische Verwertung vorgesehen, alles Andere ist – wenn überhaupt – geduldete Zwischennutzung.

Wenn nun hunderte Jugendliche auf einen Platz strömen und diesen wie selbstverständlich für sich beanspruchen, dann hat das eine politische Dimension. Der Raum wird der kapitalistischen Verwertung entzogen und jenseits dieser Logiken genutzt.

Diese politische Dimension entfällt auch nicht dadurch, dass es einzelne Bullen geben mag, die tatsächlich denken bei den Patrouillen und Kontrollen neutral vorzugehen. Die Einsatzplanung ist von vornherein entlang von Klassenverhältnissen angelegt. Die Koksparty im Nobelclub oder im Eigenheim auf dem Killesberg wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht von Bereitschaftsbullen gestürmt. Weniger gutbetuchte Jugendliche hingegen, die mit Billigwodka und ein paar Gramm Gras in der Tasche in der Stuttgarter Innenstadt feiern, haben gute Chancen auf die polizeiliche Begutachtung sämtlicher Körperöffnungen, Kabelbinder an den Handgelenken, rassistische Beleidigungen und – je nach Stimmung – auch auf Schläge und Tritte durch die Staatsmacht.

 

Spürbare Widersprüche

Während die bürgerlichen Medien später von einer Kontrolle als Auslöser der Krawalle sprachen, war die Zuspitzung der Widersprüche, die letztlich in die Krawalle mündeten, wohl doch wesentlich komplexer. Nicht wenige derjenigen, die sich im Sommer 2020 mit Kontrollen und Schikanen konfrontiert sahen, blicken auf eine Vielzahl entsprechender Erfahrungen in Ihrem Leben zurück. Von der Polizei kritisch beäugt oder eben auch offen angefeindet. Wer aus dem „falschen“ Viertel kommt, den „falschen“ sozialen Background mitbringt, die „falsche“ Hautfarbe hat, lernt die Polizei selten als „Freund und Helfer“ kennen.

Deshalb waren es nicht die Einzelereignisse, sondern die strukturellen Mechanismen die sich im Sommer 2020 verdichtet haben: Die Polizei als bewaffnetes Organ der bürgerlichen Klasse auf der einen, die proletarische, prekarisierte und ausgegrenzte Jugend auf der anderen Seite. Der Rassismus als Teil des Klassenkampfs von oben auf der einen Seite, der Hass auf eine Staatsmacht, die nicht einmal mehr versucht neutral oder vermittelnd aufzutreten, auf der anderen. Widersprüche, die sich so lange potenzierten bis der Konflikt eine neue Qualität erreichte: Den Krawall.

Erst wurden die Provokationen der Polizei mit Parolen, Flaschenwürfen und Beschädigungen an den Einsatzfahrzeugen beantwortet, später verlagerte sich die Auseinandersetzung zunehmend in die Haupteinkaufsmeile Königstraße. Der Kontrollverlust durch die Polizei dauerte etwa 5 Stunden an, erst gegen 4 Uhr in der Frühe kehrte langsam Ruhe in der Innenstadt ein.

Die Bilanz der Nacht: 24 beschädigte Einsatzfahrzeuge, 41 kaputte Läden, 32 verletzte Bullen und einige junge Leute mit neuen Sneakers, Handies, Goldschmuck und anderer enteigneter Ware. Vor allem aber: Ein neues Schreckgespenst. Die Intensität der Bilder und Ereignisse wurde medial gezielt überzeichnet und es wurde sogar von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“ schwadroniert. Ein bizarrer Höhepunkt der Hysterie war ein extra für den Besuch vom damaligen Innenminister Seehofer in der Königsstraße ausgestelltes beschädigtes Einsatzfahrzeug.

Die landespolitische Debatte und der politische, polizeiliche und juristische Umgang mit der Krawallnacht war beachtlich. Hier zeigten sich sehr plastisch verschiedene Tendenzen der bürgerlichen Politik mit ausbrechenden Klassenwidersprüchen umzugehen.

 

Lieblingsfeinde

Der Schwerpunkt lag darauf, die Beteiligten als Fremdkörper, als Feinde zu identifizieren, auf die nun kompromisslos Jagd gemacht werden müsse. Die logische Konsequenz, eine härtere Linie zur polizeilichen Kontrolle des öffentlichen Raums, wurde inzwischen auch praktisch durchgesetzt: Mit der erweiterten Videoüberwachung der Stuttgarter Innenstadt (23 neue Kameras), erhöhter allgemeiner Bullenpräsenz, der Aufstockung des „Städtischen Vollzugsdienstes“ um 30 Stellen und dergleichen mehr. Das Innenministerium und ein großer Teil der bürgerlichen Presse schlugen damals genau in diese Kerbe. Das hatte von Beginn an zugleich einen stark rassistischen Charakter:

In den Ermittlungen des Polizeiapparats wurde die Nationalität und die „Migrationsgeschichte“ von Beschuldigten untersucht, also nichts anderes als Stammbaumforschung betrieben.

Ein Polizeihauptmeister verbreitete schon während dem Einsatz in einer Bullen-Chatgruppe, dass ein „Krieg“ ausgebrochen sei und „nur Kanaken“ auf der Gegenseite stünden.

– Das wurde fortgeführt durch rassistische Aufmachungen u.a. in der Bildzeitung, die Tatverdächtige ethnisch sortierte und entwürdigende Bilder von Festgenommenen veröffentlichte.

Auffallend war der besondere Eifer der Ermittlungsbehörden: Mit einer extra eingerichteten 40-köpfige SOKO, dem Einsatz von sogenannten „Super-Recognizern“, die Unmengen an zusammengetragenem Bild- und Videomaterial aus dem Innenstadtbereich über Monate hinweg analysierten, scheute der Staat keine Kosten und Mühen. Bis jetzt wurden knapp 170 „Tatverdächtige“ ermittelt, von denen einige auch zu Knaststrafen verurteilt wurden.

 

Respektlotsen und Sportangebote

Neben der reaktionären Linie, die vor allem auf härtere Repression und Ausgrenzung gesetzt hat, die also die Widersprüche, die überhaupt erst zum Riot geführt haben, weiter verschärft, gab es im Nachgang der Krawallnacht durchaus auch Stimmen, die die soziale Dimension der Ereignisse erkannt haben. Für sie waren und sind nicht die Jugendlichen das Problem, sondern die Verschärfung der sozialen Verhältnisse in der Pandemie durch den Lockdown und z.B. ernstzunehmende Zukunftsängste in der Jugend.

Sie sehen den Lösungsansatz in erster Linie darin, mit Sozialarbeit auf die Jugendlichen einzuwirken und auf ihre Interessen in gewisser Weise einzugehen, um unkontrollierte kollektive Ausbrüche von Wut und Dynamik zu verhindern. Das Ergebnis ist, dass am Wochenende nun viel mehr Sozialarbeiter:innen und ehrenamtliche „Respektlotsen“ in der Stadt sind, die mit Jugendlichen sprechen und dass es wohl auch ein paar neue Sportangebote gibt.

Auch wenn dieser Ansatz erst einmal verständlich ist, weil er versucht sich auf die Seite der Jugendlichen zu stellen und die Sache richtig in die soziale Frage einordnet, führt das Ergebnis doch in die falsche Richtung: Die Interessengegensätze zwischen bürgerlichem Staat und proletarischen Jugendlichen werden entpolitisiert und in die falsche Richtung befriedet: Beruhigen und zurückhalten sollen sich dabei in erster Linie die Jugendlichen und nicht etwa der bewaffnete und von rassistischen Strukturen durchzogene Bullenapparat.

Der Ansatz zielt eben nicht darauf ab, nach Möglichkeiten für einen kollektiven Kampf gegen die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums zu suchen, gegen Rassismus in staatlichen Behörden anzugehen oder Formen selbstbestimmter Organisierung unter Jugendlichen auszuprobieren. Es geht letzten Endes um die Anpassung des Einzelnen an die herrschenden Verhältnisse und darum, die Ohnmacht entspannt hinzunehmen.

Der Leiter des Innenstadtreviers der Stuttgarter Polizei stellt das Verhältnis zwischen Zuckerbrot und Peitsche in einem Interview mit dem SWR zwei Jahre nach der Krawallnacht schon ganz richtig dar, wenn er sagt „Flankierende Maßnahmen wie die mobile Jugendarbeit wurden aufgestockt und wir sind viel präsenter in der Innenstadt, sodass wir gewisse Dinge auch schon im Keim ersticken konnten“. Die Sozialarbeit wird so zur Erfüllungsgehilfin für den Ausbau des staatlichen Gewaltmonopols gemacht – was nebenbei auch ganz und gar nicht im Sinne vieler ehrlicher Sozialarbeiter:innen ist!

 

…und der politische Gegner

Es gab noch zwei weitere Stränge, die in der bürgerlichen Bewältigung der Krawallnacht eine Bedeutung hatten: Auf der einen Seite wurde der Ausbruch entpolitisiert und zu reinem Hedonismus verklärt, indem er einer ominösen „Partyszene“ zugeschrieben wurde, oder verantwortungslosen Jugendlichen, deren größtes Problem in der Pandemie die Langeweile gewesen sei. Auf der anderen Seite waren die Ermittlungen des Innenministeriums von Beginn an politisch und dabei auf eine besondere Gruppe orientiert: Auf Linke. In einem Gespräch mit der Stuttgarter Zeitung, in der Woche nach der Krawallnacht, machte Innenminister Strobl nicht nur „gewalttätige Linksextremisten“ für die Ausschreitungen verantwortlich. Er forderte darüber hinaus sogar eine Strafrechtsverschärfung, die offensichtlich gegen Links intendiert ist: „Auch Leute, die andere anfeuern und zur Gewalt anstacheln, sollen zur Rechenschaft gezogen werden können. Der Landfriedens-Paragraf im Strafgesetzbuch gibt das bisher nicht her.“

Noch klarer spiegelt sich diese Orientierung in den polizeilichen Ermittlungen wieder. So wurde beispielsweise eine Funkzellenabfrage durchgeführt, bei der strukturiert analysiert wurde, ob zum Zeitpunkt der Ausschreitungen die Telefone linkspolitisch Aktiver in Stuttgart-Mitte eingeloggt waren. Insgesamt sind die Ermittlungen gegen potenziell Verdächtige mit politischem Hintergrund extrem ausufernd geführt worden. So wurde die Kameraüberwachung der S-Bahn darauf untersucht, ob im Stuttgarter Westen Personen ein und aussteigen, da sich im angrenzenden Stadtteil Heslach mehrere linke Wohngemeinschaften befinden. Oder auch Personen in das Fahndungsraster aufgenommen, die „noch nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten sind“, weil sie in der Nähe eines linken Zentrums wohnen.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Ermittlungen gegen die Linke rund um die Krawallnacht nicht ausgehend von Erkenntnissen geführt wurden, sondern entlang einer politischen Vorüberlegung. Die Qualität der Ausschreitungen konnte sich das Innenministerium nur durch ein vermutetes Zutun von linken Kräften erklären. Auf diese „Gefahr“ wurde daher auch ein großer Teil der Ermittlungskapazitäten konzentriert. Gemessen an diesem Aufwand haben sie nun mit ein paar Indizien, auf die sie erst Hausdurchsuchungen und nun Prozesse gegen gerade einmal drei Linke stützen, recht wenig in der Hand.

 

The Kids Are Alright!

Dennoch: Das Potenzial dieser Widersprüche für die revolutionäre Linke schätzen das Innenministerium und die Ermittlungsbehörden durchaus richtig ein!

Ein revolutionärer Aufbauprozess muss sich auf verschiedenen Ebenen entfalten: Als langfristige Richtung im Klassenkampf auf betrieblicher, sozialer und politischer Ebene, durch die Aneignung und Vermittlung marxistischer Gesellschaftswissenschaft und Philosophie, den Aufbau von Straßenmacht und eigenen Organisierungen, die Entwicklung von revolutionärer Strategie usw.

Ein wichtiger Pfeiler dieses Prozesses ist eben auch, „dort [zu] kämpfen wo das Leben ist“ (Clara Zetkin). Darunter verstehen wir: Die gesellschaftlichen Widersprüche zuzuspitzen, in den verschiedenen Kämpfen der Klasse gestaltend zu agieren, auch um sie in ihrer Komplexität so gut wie möglich verstehen zu können.

Wir brauchen uns keine Illusionen zu machen: Wir schauen in Stuttgart auf einen spontanen Riot zurück, der zwar Ausdruck des Klassenwiderspruchs war, aber sicher kein Ausdruck von entwickeltem Klassenbewusstsein. Er wurde vom Großteil der Handelnden vermutlich auch nicht als Teil einer Gegenmacht von unten verstanden. Es war recht viel Alkohol und Testosteron im Spiel, es wurde geprahlt und die Gewalt war längst nicht nur gegen die Bullen und klare Symbole kapitalistischer Macht gerichtet. Dennoch sind es diese Momente, in denen in erster Linie das Gewaltmonopol des Staates angegriffen und in zweiter Linie auch das „heilige“ kapitalistische Eigentum unbefugt angetastet wird, in denen sich Risse in dieser scheinbar zementierten Ordnung abzeichnen. Diese Momente sind nicht zwangsläufig mit fortschrittlichen politischen Perspektiven verbunden, sie bieten dafür aber Potenzial.

Es ist nur folgerichtig, dass eine revolutionäre Linke gut daran tut, hier präsent zu sein. Einerseits weil es durchaus möglich ist, Krawallen eine politische Richtung zu geben und es eine nicht zu unterschätzende symbolische Bedeutung hat, wenn die vermeintliche Allmacht von Bullen und Behörden, kurzzeitig gebrochen wird. Andererseits ganz grundsätzlich weil die Straße ein wesentlicher Raum im Kampf um revolutionäre Gegenmacht bleiben wird. Auf diesem Terrain Erfahrungen zu sammeln und Dynamiken zu verstehen, kann auf lange Sicht nur von Vorteil sein.

Der enorme Verfolgungseifer des Staates, gerade auch im Falle der Krawallnacht, darf nicht zu Einschüchterung und Lähmung führen. Offensichtlich machen ihnen entsprechende Ereignisse Angst. Sie fürchten, dass das bürgerliches Recht und die bürgerliche Ordnung aus den Fugen geraten könnten. Für uns ist das Motivation! Denn dieses System hat uns und der großen Mehrheit der Menschen keine lebenswerte Zukunft zu bieten.

 

Solidarität mit allen Betroffenen der Repression im Rahmen der Krawallnacht!

Vorwärts im revolutionären Aufbauprozess!

Für den Kommunismus!

 


Mobilisierung der Roten Hilfe Stuttgart zu den aktuellen Prozessen gegen linke Aktivist:innen