Gedichte von Brecht
Gegen die Objektiven | Bertolt Brecht (1933)
An die Nachgeborenen | Bertolt Brecht (1939)
Lob des Zweifels | Bertolt Brecht (1938)
Resolution der Kommunarden | Bertolt Brecht (1934)
Unsere Feinde sagen | Bertolt Brecht (1934)
Zitate Bertolt Brechts

Gedichte von Tucholsky
Rosen auf den Weg gestreut | Kurt Tucholsky (1931)
Ruhe und Ordnung | Kurt Tucholsky (1925)
Die brennende Lampe | Kurt Tucholsky (1931)

Gedichte von Soyfer
Lied vom einfachen Menschen | Jura Soyfer (1938)
Das Lied von der Erde | Jura Soyfer (1936)

Gedichte von Fried
Die Gewalt | Erich Fried
Gespräch mit einem Überlebenden | Erich Fried
Gegen die Objektiven | Bertolt Brecht (1933)
Wenn die Bekämpfer des Unrechts
 Ihre verwundeten Gesichter zeigen
 Ist die Ungeduld derer, die in Sicherheit waren
 Groß.
Warum beschwert ihr euch, fragen sie
 Ihr habt das Unrecht bekämpft! Jetzt
 Hat es euch besiegt: schweigt also!
Wer kämpft, sagen sie, muß verlieren können
 Wer Streit sucht, begibt sich in Gefahr
 Wer mit Gewalt vorgeht
 Darf die Gewalt nicht beschuldigen.
Ach, Freunde, die ihr gesichert seid
 Warum so feindlich? Sind wir
 Eure Feinde, die wir Feinde des Unrechts sind?
 Wenn die Kämpfer gegen das Unrecht besiegt sind
 Hat das Unrecht doch nicht recht!
Unsere Niederlagen nämlich
 Beweisen nichts, als daß wir zu
 Wenige sind
 Die gegen die Gemeinheit kämpfen
 Und von den Zuschauern erwarten wir
 Daß sie wenigstens beschämt sind!
An die Nachgeborenen | Bertolt Brecht (1939)
I
 Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
 Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
 Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
 Hat die furchtbare Nachricht
 Nur noch nicht empfangen.
Was sind das für Zeiten, wo
 Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
 Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
 Der dort ruhig über die Straße geht
 Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
 Die in Not sind?
Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
 Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
 Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich sattzuessen.
 Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren.)
Man sagt mir: Iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
 Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
 Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
 Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
 Und doch esse und trinke ich.
Ich wäre gerne auch weise.
 In den alten Büchern steht, was weise ist:
 Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
 Ohne Furcht verbringen
 Auch ohne Gewalt auskommen
 Böses mit Gutem vergelten
 Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
 Gilt für weise.
 Alles das kann ich nicht:
 Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
II
 In die Städte kam ich zur Zeit der Unordnung
 Als da Hunger herrschte.
 Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs
 Und ich empörte mich mit ihnen.
 So verging meine Zeit
 Die auf Erden mir gegeben war.
Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten
 Schlafen legte ich mich unter die Mörder
 Der Liebe pflegte ich achtlos
 Und die Natur sah ich ohne Geduld.
 So verging meine Zeit
 Die auf Erden mich gegeben war.
Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit.
 Die Sprache verriet mich dem Schlächter.
 Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden
 Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.
 So verging meine Zeit
 Die auf Erden mir gegeben war.
Die Kräfte waren gering. Das Ziel
 Lag in großer Ferne
 Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich
 Kaum zu erreichen.
 So verging meine Zeit
 Die auf Erden mir gegeben war.
III
 Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
 In der wir untergegangen sind
 Gedenkt
 Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
 Auch der finsteren Zeit
 Der ihr entronnen seid.
Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
 Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
 Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.
Dabei wissen wir doch:
 Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
 Verzerrt die Züge.
 Auch der Zorn über das Unrecht
 Macht die Stimme heiser. Ach, wir
 Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
 Konnten selber nicht freundlich sein.
Ihr aber, wenn es so weit sein wird
 Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
 Gedenkt unsrer
 Mit Nachsicht.
Lob des Zweifels | Bertolt Brecht (1938)
Gelobt sei der Zweifel! Ich rate euch, begrüßt mir
 Heiter und mit Achtung den
 Der euer Wort wie einen schlechten Pfennig prüft!
 Ich wollte, ihr wäret weise und gäbt
 Euer Wort nicht allzu zuversichtlich.
Lest die Geschichte und seht
 In wilder Flucht die unbesieglichen Heere.
 Allenthalben
 Stürzen unzerstörbare Festungen ein und
 Wenn die auslaufende Armada unzählbar war
 Die zurückkehrenden Schiffe
 Waren zählbar.
So stand eines Tages ein Mann auf dem unbesteigbaren Berg
 Und ein Schiff erreichte das Ende des
 Unendlichen Meeres.
O schönes Kopfschütteln
 Über der unbestreitbaren Wahrheit!
 O tapfere Kur des Arztes
 An dem rettungslos verlorenen Kranken!
 Schönster Zweifel aber
 Wenn die verzagten Geschwächten den Kopf heben und
 An die Stärke ihrer Unterdrücker
 Nicht mehr glauben!
Oh, wie war doch der Lehrsatz mühsam erkämpft!
 Was hat er an Opfern gekostet!
 Daß dies so ist und nicht etwa so
 Wie schwer war’s zu sehen doch!
 Aufatmend schrieb ihn ein Mensch eines Tags in das Merkbuch des Wissens ein.
 Lange steht er vielleicht nun da drin und viele Geschlechter
 Leben mit ihm und sehn ihn als ewige Weisheit
Und es verachten die Kundigen alle, die ihn nicht wissen.
 Und dann mag es geschehn, daß ein Argwohn entsteht, denn neue Erfahrung
 Bringt den Satz in Verdacht. Der Zweifel erhebt sich.
 Und eines anderen Tags streicht ein Mensch im Merkbuch des Wissens
 Bedächtig den Satz durch.
Von Kommandos umbrüllt, gemustert
 Ob seiner Tauglichkeit von bärtigen Ärzten, inspiziert
 Von strahlenden Wesen mit goldenen Abzeichen, ermahnt
 Von feierlichen Pfaffen, die ihm ein von Gott selber verfaßtes Buch um die Ohren schlagen
 Belehrt
 Von ungeduldigen Schulmeistern, steht der Arme und hört
 Daß die Welt die beste der Welten ist und daß das Loch
 Im Dach seiner Kammer von Gott selber geplant ist.
 Wirklich, er hat es schwer
 An dieser Welt zu zweifeln.
Schweißtriefend bückt sich der Mann, der das Haus baut, in dem er nicht wohnen soll
 Aber es schuftet schweißtriefend auch der Mann, der sein eigenes Haus baut.
 Da sind die Unbedenklichen, die niemals zweifeln.
 Ihre Verdauung ist glänzend, ihr Urteil ist unfehlbar.
 Sie glauben nicht den Fakten, sie glauben nur sich. Im Notfall
 Müssen die Fakten dran glauben. Ihre Geduld mit sich selber
 Ist unbegrenzt. Auf Argumente
 Hören sie mit dem Ohr des Spitzels.
Den Unbedenklichen, die niemals zweifeln
 Begegnen die Bedenklichen, die niemals handeln.
 Sie zweifeln nicht, um zur Entscheidung zu kommen, sondern
 Um der Entscheidung auszuweichen. Köpfe
 Benützen sie nur zum Schütteln. Mit besorgter Miene
 Warnen sie die Insassen sinkender Schiffe vor dem Wasser.
 Unter der Axt des Mörders
 Fragen sie sich, ob er nicht auch ein Mensch ist.
 Mit der gemurmelten Bemerkung
 Daß die Sache noch nicht durchforscht ist, steigen sie ins Bett.
 Ihre Tätigkeit besteht in Schwanken.
 Ihr Lieblingswort ist: nicht spruchreif.
Freilich, wenn ihr den Zweifel lobt
 So lobt nicht
 Das Zweifeln, das ein Verzweifeln ist!
Was hilft zweifeln können dem
 Der sich nicht entschließen kann!
 Falsch mag handeln
 Der sich mit zu wenig Gründen begnügt
 Aber untätig bleibt in der Gefahr
 Der zu viele braucht.
Du, der du ein Führer bist, vergiß nicht
 Daß du es bist, weil du an Führern gezweifelt hast!
 So gestatte den Geführten
 Zu zweifeln!
Resolution der Kommunarden | Bertolt Brecht (1934)
1
 In Erwägung unsrer Schwäche machtet
 Ihr Gesetze, die uns knechten soll’n.
 Die Gesetze seien künftig nicht beachtet
 In Erwägung, daß wir nicht mehr Knecht sein woll’n.
In Erwägung, daß ihr uns dann eben
 Mit Gewehren und Kanonen droht
 Haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben
 Mehr zu fürchten als den Tod.
2
 In Erwägung, daß wir hungrig bleiben
 Wenn wir dulden, daß ihr uns bestehlt
 Wollen wir mal feststelln, daß nur Fensterscheiben
 Uns vom guten Brote trennen, das uns fehlt.
In Erwägung, daß ihr uns dann eben
 Mit Gewehren und Kanonen droht
 Haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben
 Mehr zu fürchten als den Tod.
3
 In Erwägung, daß da Häuser stehen
 Während ihr uns ohne Bleibe laßt
 Haben wir beschlossen, jetzt dort einzuziehen
 Weil es uns in unsern Löchern nicht mehr paßt.
In Erwägung, daß ihr uns dann eben
 Mit Gewehren und Kanonen droht
 Haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben
 Mehr zu fürchten als den Tod.
4
 In Erwägung: es gibt zuviel Kohlen
 Während es uns ohne Kohlen friert
 Haben wir beschlossen, sie uns jetzt zu holen
 In Erwägung, daß es uns dann warm sein wird.
In Erwägung, daß ihr uns dann eben
 Mit Gewehren und Kanonen droht
 Haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben
 Mehr zu fürchten als den Tod.
5
 In Erwägung: es will euch nicht glücken
 Uns zu schaffen einen guten Lohn
 übernehmen wir jetzt selber die Fabriken
 In Erwägung: ohne euch reicht’s für uns schon.
In Erwägung, daß ihr uns dann eben
 Mit Gewehren und Kanonen droht
 Haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben
 Mehr zu fürchten als den Tod.
6
 In Erwägung, daß wir der Regierung
 Was sie immer auch verspricht, nicht traun
 Haben wir beschlossen, unter eigner Führung
 Uns nunmehr ein gutes Leben aufzubaun.
In Erwägung: ihr hört auf Kanonen –
 Andre Sprache könnt ihr nicht verstehn –
 Müssen wir dann eben, ja, das wird sich lohnen
 Die Kanonen auf euch drehn!
Unsere Feinde sagen | Bertolt Brecht (1934)
Unsere Feinde sagen: Der Kampf ist zu Ende.
 Aber wir sagen: Er hat angefangen.
Unsere Feinde sagen: Die Wahrheit ist vernichtet.
 Aber wir sagen: Wir wissen sie noch.
Unsere Feinde sagen: Auch wenn die Wahrheit noch
 Gewusst wird
 Kann sie nicht mehr verbreitet werden.
 Aber wir verbreiten sie.
Es ist der Vorabend der Schlacht.
 Es ist das Schmieden unsere Kader.
 Es ist das Studium des Kampfplanes.
 Es ist der Tag vor dem Fall
 Unserer Feinde.
Zitate Bertolt Brechts
„Adolf Hitler, dem sein Bart, ist von ganz besondrer Art. Kinder da ist etwas faul: Ein so kleiner Bart und ein so großes Maul.“
„Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“
„Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!“
„Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“
Rosen auf den Weg gestreut | Kurt Tucholsky (1931)
Ihr müßt sie lieb und nett behandeln,
 erschreckt sie nicht – sie sind so zart!
 Ihr müßt mit Palmen sie umwandeln,
 getreulich ihrer Eigenart!
 Pfeift euerm Hunde, wenn er kläfft –:
 Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!
Wenn sie in ihren Sälen hetzen,
 sagt: »Ja und Amen – aber gern!
 Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!«
 Und prügeln sie, so lobt den Herrn.
 Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft!
 Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.
Und schießen sie –: du lieber Himmel,
 schätzt ihr das Leben so hoch ein?
 Das ist ein Pazifisten-Fimmel!
 Wer möchte nicht gern Opfer sein?
 Nennt sie: die süßen Schnuckerchen,
 gebt ihnen Bonbons und Zuckerchen …
 Und verspürt ihr auch
 in euerm Bauch
 den Hitler-Dolch, tief, bis zum Heft –:
 Küßt die Faschisten, küßt die Faschisten,
 küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft –!
Ruhe und Ordnung | Kurt Tucholsky (1925)
Wenn Millionen arbeiten, ohne zu leben,
 wenn Mütter den Kindern nur Milchwasser geben –
 das ist Ordnung.
 Wenn Werkleute rufen: »Laßt uns ans Licht!
 Wer Arbeit stiehlt, der muß vors Gericht!«
 Das ist Unordnung.
Wenn Tuberkulöse zur Drehbank rennen,
 wenn dreizehn in einer Stube pennen –
 das ist Ordnung.
 Wenn einer ausbricht mit Gebrüll,
 weil er sein Alter sichern will –
 das ist Unordnung.
Wenn reiche Erben im schweizer Schnee
 jubeln – und sommers am Comer See –
 dann herrscht Ruhe.
 Wenn Gefahr besteht, dass sich Dinge wandeln,
 wenn verboten wird, mit dem Boden zu handeln –
 dann herrscht Unordnung.
Die Hauptsache ist: Nicht auf Hungernde hören.
 Die Hauptsache ist: Nicht das Straßenbild stören.
 Nur nicht schrein.
 Mit der Zeit wird das schon.
 Alles bringt euch die Evolution.
 So hats euer Volksvertreter entdeckt.
 Seid ihr bis dahin alle verreckt?
 So wird man auf euern Gräbern doch lesen:
 sie sind immer ruhig und ordentlich gewesen.
Die brennende Lampe | Kurt Tucholsky (1931)
Wenn ein jüngerer Mann, etwa von dreiundzwanzig Jahren, an einer verlassenen Straßenecke am Boden liegt, stöhnend, weil er mit einem tödlichen Gas ringt, das eine Fliegerbombe in der Stadt verbreitet hat, er keucht, die Augen sind aus ihren Höhlen getreten, im Munde verspürt er einen widerwärtigen Geschmack, und in seinen Lungen sticht es, es ist, wie wenn er unter Wasser atmen sollte –: dann wird dieser junge Mensch mit einem verzweifelten Blick an den Häusern hinauf, zum Himmel empor, fragen:
„Warum –?“
Weil, junger Mann, zum Beispiel in einem Buchladen einmal eine sanfte grüne Lampe gebrannt hat. Sie bestrahlte, junger Mann, lauter Kriegsbücher, die man dort ausgestellt hatte; sie waren vom ersten Gehilfen fein um die sanft brennende Lampe herumdrapiert worden, und die Buchhandlung hatte für dieses ebenso geschmackvolle wie patriotische Schaufenster den ersten Preis bekommen.
Weil, junger Mann, deine Eltern und deine Großeltern auch nicht den leisesten Versuch gemacht haben, aus diesem Kriegsdreck und aus dem Nationalwahn herauszukommen. Sie hatten sich damit begnügt – bitte, stirb noch nicht, ich möchte dir das noch schnell erklären, zu helfen ist dir ohnehin nicht mehr – sie hatten sich damit begnügt, bestenfalls einen allgemeinen, gemäßigten Protest gegen den Krieg loszulassen; niemals aber gegen den, den ihr sogenanntes Vaterland geführt hat, grade führt, führen wird. Man hatte sie auf der Schule und in der Kirche, und, was noch wichtiger war, in den Kinos, auf den Universitäten und durch die Presse national vergiftet, so vergiftet, wie du heute liegst: hoffnungslos. Sie sahen nichts mehr. Sie glaubten ehrlich an diese stumpfsinnige Religion der Vaterländer, und sie wußten entweder gar nicht, wie ihr eignes Land aufrüstete: geheim oder offen, je nach den Umständen; oder aber sie wußten es, und dann fanden sies sehr schön. Sehr schön fanden sie das. Deswegen liegst du, junger Mann.
Was röchelst du da –? „Mutter?“ – Ah, nicht doch. Deine Mutter war erst Weib und dann Mutter, und weil sie Weib war, liebte sie den Krieger und den Staatsmörder und die Fahnen und die Musik und den schlanken, ranken Leutnant. Schrei nicht so laut; das war so. Und weil sie ihn liebte, haßte sie alle die, die ihr die Freude an ihrer Lust verderben wollten. Und weil sie das liebte, und weil es keinen öffentlichen Erfolg ohne Frauen gibt, so beeilten sich die liberalen Zeitungsleute, die viel zu feige waren, auch nur ihren Portier zu ohrfeigen, so beeilten sie sich, sage ich dir, den Krieg zu lobpreisen, halb zu verteidigen und jenen den Mund und die Druckerschwärze zu verbieten, die den Krieg ein entehrendes Gemetzel nennen wollten; und weil deine Mutter den Krieg liebte, von dem sie nur die Fahnen kannte, so fand sich eine ganze Industrie, ihr gefällig zu sein, und viele Buchmacher waren auch dabei. Nein, nicht die von der Rennbahn; die von der Literatur. Und Verleger verlegten das. Und Buchhändler verkauften das.
Und einer hatte eben diese sanft brennende Lampe aufgebaut, sein Schaufenster war so hübsch dekoriert; da standen die Bücher, die das Lob des Tötens verkündeten, die Hymne des Mordes, die Psalmen der Gasgranaten. Deshalb, junger Mann.
Eh du die letzte Zuckung tust, junger Mann: Man hat ja noch niemals versucht, den Krieg ernsthaft zu bekämpfen. Man hat ja noch niemals alle Schulen und alle Kirchen, alle Kinos und alle Zeitungen für die Propaganda des Krieges gesperrt. Man weiß also gar nicht, wie eine Generation aussähe, die in der Luft eines gesunden und kampfesfreudigen, aber kriegablehnenden Pazifismus aufgewachsen ist. Das weiß man nicht. Man kennt nur staatlich verhetzte Jugend. Du bist ihre Frucht; du bist einer von ihnen – so, wie dein fliegender Mörder einer von ihnen gewesen ist.
Darf ich deinen Kopf weicher betten? Oh, du bist schon tot. Ruhe in Frieden. Es ist der einzige, den sie dir gelassen haben.
Kurt Tucholsky alias Kaspar Hauser in Die Weltbühne, 02.06.1931, Nr. 22
Lied vom einfachen Menschen | Jura Soyfer (1938)
Menschen sind wir einst vielleicht gewesen
 Oder werden’s eines Tages sein,
 Wenn wir gründlich von all dem genesen.
 Aber sind wir heute Menschen? Nein!
 Wir sind der Name auf dem Reisepaß,
 Wir sind das stumme Bild im Spiegelglas,
 Wir sind das Echo eines Phrasenschwalls
 Und Widerhall des toten Widerhalls.
Längst ist alle Menschlichkeit zertreten,
 Wahren wir doch nicht den leeren Schein!
 Wir, in unsern tief entmenschten Städten,
 Sollen uns noch Menschen nennen? Nein!
 Wir sind der Straßenstaub der großen Stadt,
 Wir sind die Nummer im Katasterblatt,
 Wir sind die Schlange vor dem Stempelamt
 Und unsre eignen Schatten allesamt.
Soll der Mensch in uns sich einst befreien,
 Gibt’s dafür ein Mittel nur allein:
 Stündlich fragen, ob wir Menschen seien?
 Stündlich uns die Antwort geben: Nein!
 Wir sind das schlecht entworfne Skizzenbild
 Des Menschen, den es erst zu zeichnen gilt.
 Ein armer Vorklang nur zum großen Lied.
 Ihr nennt uns Menschen? Wartet noch damit!
Das Lied von der Erde | Jura Soyfer (1936)
Denn nahe, viel näher, als ihr es begreift,
 Hab ich die Erde gesehn.
 Ich sah sie von goldenen Saaten umreift,
 Vom Schatten des Bombenflugzeugs gestreift
 Und erfüllt von Maschinengefröhn.
 Ich sah sie von Radiosendern bespickt;
 Die warfen Wellen von Lüge und Haß.
 Ich sah sie verlaust, verarmt – und beglückt
 Mit Reichtum ohne Maß.
Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde,
 Voll Leben und voll Tod ist diese Erde,
 In Armut und in Reichtum grenzenlos.
 Gesegnet und verdammt ist diese Erde,
 Von Schönheit hell umflammt ist diese Erde,
 Und ihre Zukunft ist herrlich und groß.
Denn nahe, viel näher als ihr es begreift,
 Steht diese Zukunft bevor.
 Ich sah, wie sie zwischen den Saaten schon reift,
 Die Schatten vom Antlitz der Erde schon streift
 Und greift zu den Sternen empor.
 Ich weiß, daß von Sender zu Sender bald fliegt
 Die Nachricht vom Tag, da die Erde genas.
 Dann schwelgt diese Erde, erlöst und beglückt,
 In Reichtum ohne Maß.
Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde,
 Voll Leben und voll Tod ist diese Erde,
 In Armut und in Reichtum grenzenlos.
 Gesegnet und verdammt ist diese Erde,
 Von Schönheit hell umflammt ist diese Erde,
 Und ihre Zukunft ist herrlich und groß!
Die Gewalt | Erich Fried
Die Gewalt fängt nicht an
 wenn einer einen erwürgt.
 Sie fängt an, wenn einer sagt:
 „Ich liebe dich:
 Du gehörst mir!“
Die Gewalt fängt nicht an
 wenn Kranke getötet werden.
 Sie fängt an, wenn einer sagt:
 „Du bist krank:
 Du mußt tun was ich sage!“
Die Gewalt fängt an,
 wenn Eltern
 ihre folgsamen Kinder beherrschen
 und wenn Päpste und Lehrer und Eltern
 Selbstbeherrschung verlangen.
Die Gewalt herrscht dort wo der Staat sagt:
 „Um die Gewalt zu bekämpfen
 darf es keine Gewalt mehr geben
 außer meiner Gewalt“
Die Gewalt herrscht
 wo irgendwer oder irgend etwas
 zu hoch ist oder zu heilig,
 um noch kritisiert zu werden.
Oder wo die Kritik nichts tun darf
 sondern nur reden,
 und die Heiligen oder die Hohen
 mehr tun dürfen als reden.
Die Gewalt herrscht dort wo es heißt:
 „Du darfst keine Gewalt anwenden!“
Die Gewalt herrscht dort
 wo sie ihre Gegner einsperrt
 und sie verleumdet
 als Anstifter zur Gewalt.
Das Grundgesetz der Gewalt lautet:
 „Recht ist, was wir tun.
 Und was die anderen tun,
 das ist Gewalt!“
Die Gewalt kann man vielleicht nie
 mit Gewalt überwinden,
 aber auch nicht immer
 ohne Gewalt.
Gespräch mit einem Überlebenden | Erich Fried
Was hast du damals getan
 was du nicht hättest tun sollen?
 „Nichts“
Was hast du nicht getan
 was du hättest tun sollen?
 „Das und Das
 dieses und jenes:
 Einiges“
Warum hast du es nicht getan?
 „Weil ich Angst hatte“
 Warum hattest du Angst?
 „Weil ich nicht sterben wollte“
Sind andere gestorben
 weil du nicht sterben wolltest?
 „Ich glaube
 ja“
Hast du noch etwas zu sagen
 zu dem was du nicht getan hast?
 „Ja: Dich zu fragen
 Was hättest du an meiner Stelle getan?“
Das weiß ich nicht
 und ich kann über dich nicht richten.
 Nur eines weiß ich:
 Morgen wird keiner von uns leben bleiben
 wenn wir heute wieder nichts tun
 
						 
							 
			 
			 
			 
			




