Einleitung: Die Geschichte von Unten schreiben!
Die Geschichte der Gesellschaften ist kein Museumsraum, in dem Ausstellungsstücke der Vergangenheit präsentiert werden, sie ist niemals neutral und endet nicht mit einem abgeschlossenen Rundgang. Wer heute die Deutung der Vergangenheit beherrscht, errichtet damit zugleich eine Basis für zukünftige Entwicklungen. Wir widmen uns in dieser Broschüre zum 100. Jahrestag der Novemberrevolution einem bedeutenden Teil revolutionärer Geschichte und versuchen die Ereignisse sowohl in ihrer Vielschichtigkeit zu begreifen, als auch für uns einzuordnen. Die Novemberrevolution ist ein Meilenstein in der deutschen Geschichte, mit dem sich einige wichtige Erkenntnisse sowohl über die bürgerlichen Kräfte in Deutschland, als auch über die Notwendigkeiten und Voraussetzungen einer revolutionären Bewegung verbinden. Vor der genaueren Betrachtung der Ereignisse um den November 1918, möchten wir in diesem Text aber unser grundlegendes Verhältnis zur Geschichte erklären. Der Geschichte derjenigen, die der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ein Ende setzen wollen und können. Einer Geschichte, die wir selbst schreiben müssen, aus der wir zu lernen haben, die uns Verantwortung und ein reichhaltiges Erbe überträgt. Friedrich Engels hat einmal geschrieben:
„Sind wir einmal geschlagen, so haben wir nichts anderes zu tun, als wieder von vorn anzufangen!“. In diesem Sinne verstehen wir uns in der Tradition vieler revolutionärer Neuanfänge, die heute unser unabdingbares Gepäck im Kampf für eine kommunistische Gesellschaft sind.
1.1 Der Kampf um Geschichte und Geschichtsschreibung
In der Schule, Medien und Öffentlichkeit wird ständig behauptet, dass es keine Alternative zu den bestehenden Verhältnissen gäbe und dass alle historisch aufgetretenen Gegenentwürfe gescheitert seien. Kommunismus wird mal als nette Utopie abgetan, die aber leider sowieso nicht machbar sei, mal als wahnwitziger diktatorischer Versuch, alles und jeden gleichzuschalten. Was bleibt? Eine Politik, die sich immer in den Zwängen der kapitalistischen Profitjagd bewegt. Dass diese Gesellschaftsordnung alles andere als stabil ist, dass sie weltweite Krisen, Kriege, politisches Chaos und Armut produziert, dass 60 Millionen Menschen über den Globus irren, weil ihre Lebensgrundlagen zerstört werden und doch nirgends ankommen können, weil sie nicht in die Verwertungsordnung passen, interessiert in dieser Logik nicht. Für die herrschende Klasse zählt der Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten und das Ende des sogenannten Kalten Krieges als „Ende der Geschichte“1. Mit dem omnipräsenten Märchen vom Kapitalismus als letzter und bestmöglicher Gesellschaftsordnung soll den Menschen jede Basis zur Veränderung der Verhältnisse entzogen werden. Die Auseinandersetzung mit gewesenen und möglichen Alternativen wird bestenfalls als sinnlos, im schlechteren Fall als gefährlich eingestuft, weil es ja doch nur schlimmer werden könne. Die Bestimmung und Interpretation der Geschichte dient als Herrschaftsinstrument. Sie bestimmt welcher Widerstand in welcher Situation legitim ist und wo er unvertretbar wird, sie definiert das Wertesystem von Gesellschaften und beeinflusst das Verständnis von Moral und Ethik. Und das ist nicht erst seit gestern so, Geschichtsschreibung wurde bereits sehr früh von den Pharaonen als Herrschaftsinstrument für die Unterdrückung und Befriedung der größten Teile der Bevölkerung entdeckt und von chinesischen Kaisern, aztekischen Herrschern, mittelalterlichen Despoten, deutschen Faschisten, wie auch den bürgerlichen Politikern durch alle Zeiten als solches genutzt.²
Insbesondere Institutionen wie Schulen und Universitäten sind zentrale Orte, an denen das herrschende Geschichtsbild in den Köpfen verankert wird. Abgesehen von der sozialen Ungleichheit, die dieses Bildungssystem immer wieder reproduziert, wird in seinen Institutionen ein Geschichts- und Gesellschaftsbild vermittelt, in dem die Interessen der besitzenden und verwaltenden Klasse im modernen Kapitalismus diejenigen der gesamten Gesellschaft seien. Dieses „Wissen“ ist alles andere als eine Einladung zum kritischen und mündigen Denken: Es wird von einer Bürgergesellschaft erzählt, die aus allen Erfahrungen und Widersprüchen der Vergangenheit gelernt habe, die besten Traditionen fortführe und heute auf Augenhöhe demokratische Entscheidungen träfe. Das besitzende Bürgertum wird als rundum fortschrittliche Klasse dargestellt, die den Feudalismus niedergerungen habe und, mit einigen Fehltritten hier und da, eine Welt der Freiheit und Gleichheit geschaffen habe.
Diffamierung und Verschweigen revolutionärer Geschichte dient also der Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse. Gegenentwürfe zur herrschenden Ordnung aus der Klasse der Ausgebeuteten haben in den bürgerlichen Erzählungen keine Legitimation. Sie werden als verbrecherisch, verwerflich oder einfach als unfähig abgestempelt. Die herrschende Klasse muss aus ihrer Sicht verhindern, dass eine positive Bezugnahme auf die revolutionären Subjekte in der Geschichte stattfindet. Und vor allem darf ihr Handeln nicht in Bezug zur aktuellen Situation gesetzt und als Handlungsoption verstanden werden. Die Überwindung von Parlamenten durch Räte der ArbeiterInnen? Soldaten, die ihre Gewehre umdrehen und gegen die eigene Regierung richten? Das darf nicht sein, also dürfen auch bestimmte geschichtliche Akteure keine Bedeutung haben.
Die bürgerliche Geschichtsschreibung besteht aus einem Sammelsurium an Theorien, die sich teils widersprechen, teils ineinander übergehen. Mal sind es große Staatsmänner, mal Kulturen oder Philosophien, die die Geschichte bestimmen, mal stehen Geschlechterrollen, mal steht der wissenschaftliche Fortschritt im Vordergrund. Und sicherlich beziehen auch ernstzunehmende bürgerliche HistorikerInnen die Widersprüchlichkeit der Produktionsverhältnisse in ihre Arbeiten mit ein. Was alle Formen dieser Geschichtsschreibung aber eint, ist ein fehlendes Verständnis für die Strukturen und Gesetze der Gesellschaftsgeschichte. Diese zu verstehen bedeutet eben auch, die folgenreichen Bruchlinien zwischen den sozialen Klassen von Gesellschaften, die revolutionären Interessen und Potenziale von Teilen der Gesellschaften zu sehen und zu begreifen. Kurz: Zu verstehen, dass die bewusst handelnde Masse der Ausgebeuteten und Unterdrückten die Menschheitsgeschichte beeinflussen kann. Sicherlich ist die bürgerliche Geschichtsschreibung nicht der einzige Grund dafür, dass davon heute und hier kaum etwas zu spüren ist. Eines der wirksamsten gesellschaftlichen Beruhigungsmittel, das jede Hoffnung auf Verbesserungen der sozialen Lage aufs Jenseits verschiebt, sind z.B. religiöse Ideologien. Nicht zuletzt ist es schlicht die Fokussierung auf die eigene kleine Lebenswelt mit der große Teile der Gesellschaft den aufbrechenden Widersprüchen des Kapitalismus zu entgehen versuchen.
1.2 Der historische Materialismus
Doch „Geschichte“ – Was ist das überhaupt? Zunächst eine Abfolge von Ereignissen, die zu unserem jetzigen Leben führten. Geschichte beschreibt, wie wir wurden, was wir sind.
Die Menschheitsgeschichte wurde nicht durch den Zufall gelenkt, nicht durch Ideen oder gar einen Gott. Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften folgte und folgt bestimmten Gesetzmäßigkeiten, die in den Gesellschaften selbst zu finden sind. Neben vielen Pflöcken, die Marx und Engels auf philosophischem, ökonomischem und politischem Terrain einschlugen, war eines ihrer bedeutendsten Werke die Ausarbeitung und Beschreibung einer Geschichtsauffassung, die auf dem gesellschaftlichen Handeln der Menschen selbst aufbaut, des sogenannten historischen Materialismus. Dieser beschreibt die Entwicklungsgesetze des Werdens, Fortschreitens und der Veränderungen der menschlichen Gesellschaft.
Grundlegend für ein materialistisches Verständnis der Menschheitsgeschichte ist die Feststellung, dass Menschen nur durch gemeinsame Anstrengungen überleben und sich entwickeln können. Die Grundlage, auf der alle gesellschaftlichen Erscheinungen beruhen, ist die Produktion und die Verteilung der Produkte. Immer wieder stattfindende Veränderungen und Weiterentwicklungen der Produktivkräfte (Werkzeuge, Maschinen, Infrastruktur, Kompetenzen, Arbeitsabläufe) bedingen Veränderungen der gesamten Produktionsverhältnisse. Produktionsverhältnisse, das sind die Gesamtheit der Beziehungen, die die Menschen einer Gesellschaft zueinander eingehen, um zu produzieren und zu verteilen. Im Kapitalismus etwa sind die Produktionsverhältnisse dadurch bestimmt, dass die Klasse der Kapitalisten samt ihrer hohen Verwaltung über die Produktionsmittel – inklusive der menschlichen Arbeitskraft – verfügt, während der größte Teil der Gesellschaft durch Lohnarbeit zwar die eigentlich produktiven Tätigkeiten vollbringt, von der Kontrolle über den geschaffenen Reichtum aber ausgeschlossen bleibt. Diese Art der gesellschaftlichen Produktion, der Möglichkeiten menschlicher Bedürfnisbefriedigung und Weiterentwicklung, wirkt sich auf weitere gesellschaftliche und historisch gewordene Bereiche wie Kultur, Politik, Wissenschaft und Philosophie aus. Die Fortschritte und Entwicklungen, die in diesen Bereichen gemacht werden, sind von den Produktionsverhältnissen, unter denen sie entstanden sind, geprägt. Sie wirken aber auch zurück auf die weitere Entwicklung der ökonomischen Basis und können dieser zeitweise auch vorauseilen.
Engels skizzierte die wissenschaftliche Erklärung des historischen Materialismus in seiner Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“:
„Die materialistische Anschauung der Geschichte geht von dem Satz aus, dass die Produktion und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; dass in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert und wie das Produzierte ausgetauscht wird. Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlicher Veränderungen zu suchen […] in der Veränderung der Produktions- und Austauschweise; sie sind zu suchen nicht in der Philosophie, sondern in der Ökonomie der betreffenden Epoche.“³
In der Entwicklung der Menschheitsgeschichte löst also eine Gesellschaftsformation die andere ab. In groben Zügen kann man die folgende Abfolge erkennen: Urgesellschaft – Sklavenhaltergesellschaft – Feudalgesellschaft – kapitalistische Gesellschaft. Eine auf den Kapitalismus folgende Gesellschaftsform, die sich aus den Möglichkeiten der technischen, wissenschaftlichen und organisatorischen Weiterentwicklungen, aber gerade auch aus den Widersprüchen zwischen Herrschenden und Ausgebeuteten entwickeln lässt, ist der Sozialismus. Mit ihm ist die Entwicklung hin zu einer von Klassen befreiten Gesellschaft, in der die Versorgung der Menschen, die Befriedigung ihrer materiellen und sozialen Bedürfnisse und die Möglichkeiten ihrer Entfaltung durch kollektive und selbstbestimmte Anstrengungen selbst in die Hand genommen werden können, keine reine Utopie mehr, sondern eine geschichtliche Möglichkeit mit objektiv gegebenen Voraussetzungen.
Mit dem historischen Materialismus lässt sich die allgemeine Tendenz der Gesellschaftsgeschichte herausarbeiten und erklären. Es gibt jedoch kein automatisches, mechanisches Fortschreiten. Die Entwicklungen gehen in verschiedenen Regionen der Erde mit sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten voran. Es gibt Schübe, in denen sich Geschichte rasend schnell entwickelt, es gibt Entwicklungssprünge, große Rückschläge und Jahrhunderte, in denen Gesellschaften verkrusten und die geschichtliche Entwicklung still zu stehen scheint. Die menschliche Geschichte im Gesamten verharrt jedoch nicht auf der Stelle. Durch Entwicklungen der Produktivkräfte im Produktionsprozess bleibt sie ständig in Bewegung, entwickelt sich. Auf einer bestimmten Entwicklungsstufe geraten die voranschreitenden Produktivkräfte in Konflikt mit den althergebrachten Produktionsverhältnissen – die bestehenden Formen der Produktion und Verteilung sind nicht mehr in der Lage die neuen Kapazitäten und Potenziale zum Durchschlagen zu bringen. In diesen großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen reißt eine bislang untergeordnete Klasse, die neue, fortgeschrittenere Produktionsverhältnisse repräsentiert, die Führung der Gesellschaft an sich. Dieser Konflikt wühlt sämtliche gesellschaftlichen Bereiche um und verläuft niemals ohne handfeste Auseinandersetzungen. Jede grundlegende Umwälzung gesellschaftlicher Ordnungen, jede soziale Revolution, hat ihre Grundlage also in der Zuspitzung des Klassenkampfes.
Die bürgerlichen Revolutionen Ende des 18. und im 19. Jahrhundert, aber auch die sozialistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts gründen auf materiellen geschichtlichen Entwicklungen, die sich eben nicht ewig im Zaum halten lassen. Dass ein revolutionärer Umbruch in den kapitalistischen Staaten noch immer überfällig ist, dass der Kapitalismus seine eigenen produktiven Möglichkeiten längst nicht mehr komplett ausschöpfen und nutzen kann – und stattdessen bestehendes Potenzial zerstört und blockiert – zeigt sich überdeutlich. Das Kapital strömt von einem Krisenherd zum nächsten. Überproduktionskrisen werden durch aufgeblähte Finanzmärkte verstärkt und ausgedehnt, Unmengen an Lebensmitteln werden tagtäglich vernichtet weil Märkte fehlen um sie gewinnbringend zu verkaufen, die Zerstörung imperialistischer Kriege trägt schon den Ausblick auf profitablen Wiederaufbau in sich – um nur einige Beispiele zu nennen. Auch wenn der Kapitalismus sich hier in Deutschland im internationalen Vergleich bei vielen noch als stabile Premiumversion „Soziale Marktwirtschaft“ verkaufen kann, bröckelt die Fassade mehr und mehr.
Deshalb ist Geschichte für uns keine Geschichte der Ideen großer Denker, Köpfe und Herrscher, sondern sie wird nur verständlich aus einer Perspektive, die sich den Kämpfen zwischen den widerstreitenden sozialen Interessen in einer Gesellschaft widmet. Das heißt nicht, dass die Geschichte der Philosophie, des Denkens, der Ideen für uns keine Bedeutung hat. Es zeigt aber, dass die Bewusstseinsformen, denen das Denken entspringt, eben im Kontext bestimmter geschichtlicher Etappen des Klassenkampfes gesehen werden müssen. In diesem Kontext können Ideen durchaus maßgeblich zur Beschleunigung geschichtlicher Entwicklungen beitragen. Die Ideen von „nationalen Vereinigungen“ und der „Gleichheit vor dem Gesetz“ in den bürgerlichen Revolutionen zum Beispiel hängen zusammen mit den Interessen der damals aufstrebenden bürgerlichen Klasse. Es ging nicht nur um ein vernünftigeres Zusammenleben, sondern um große zusammenhängende Märkte, Produktions- und Handelsräume, in denen sie sich ohne rechtliche Einschränkungen ausbreiten konnten.
Während die bürgerliche Geschichtsschreibung auf der Bestimmung der geschichtlichen Entwicklung durch Ideen beharrt und materielle Bedingungen für sie beliebige Teilaspekt bilden, betont Marx:
„Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt was es sich selbst dünkt, ebenso wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dieses Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.
Gerade auch revolutionäre Bewegungen entstehen aus den Umständen und Gegebenheiten ihrer Zeit und nicht als Kopfgeburt Einzelner.
Was bedeutet die materialistische Geschichtsauffassung für die Perspektive revolutionärer Veränderungen? Menschen werden durch die Erkenntnis gemeinsamer sozialer Interessen miteinander verbunden und gestalten so den Gang der Geschichte selbst. Jedoch tun sie dies nicht in frei gewählten Umständen und nicht zwangsläufig bewusst. Das heißt: Sie sind gesellschaftlich und geschichtlich bedingten Zwängen unterworfen. Neue Wege können nur auf Grundlage der vorangegangenen Entwicklung der Gesellschaft eingeschlagen werden. Die Handelnden sind also „Kinder ihrer Zeit“. Sie können sich die Widersprüche und Entwicklungsperspektiven dieser Zeit und ihre eigene gesellschaftliche Rolle darin aber bewusst machen und auf revolutionäre Veränderungen hinwirken.
1.3 „Die Geschichte ist der einzig wahre Lehrmeister, die Revolution die beste Schule des Proletariats.“
Als KommunistInnen müssen wir die herrschaftssichernde und unsere Klasse lähmende Form der Geschichtsschreibung aufbrechen, den Kampf um die Definitionsmacht über die Geschichte aufnehmen und die vorangegangenen fortschrittlichen Kämpfe als Teil unserer eigenen Kämpfe begreifen. „Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst.“5 Wir fordern also nicht von bürgerlichen HistorikerInnen anders zu arbeiten. Es ist der bürgerlichen Geschichtsschreibung einfach nicht möglich, den Klassenkampf und seine Lehren zu begreifen und mit den historischen Perspektiven der Ausgebeuteten in Bezug zu bringen. Es kann also nur die Aufgabe heutiger linker und revolutionärer Bewegungen sein, ihre Geschichte zu verstehen und weiter zu schreiben.
In der Vergangenheit gab es immer wieder Versuche, das jeweils herrschende System zu kippen, die Mächtigen zu stürzen und das Bestehende durch etwas Besseres zu ersetzen. Dabei lässt sich beim Blick in die Geschichte eine Kontinuität erkennen, die sich – nicht ohne Wirrungen, Verirrungen und Brüche – von den Sklavenaufständen der Antike, über die Bauernrevolten des Mittelalters, die Klassenkämpfe der französischen Revolution und den sozialistischen Versuch der Pariser Commune, über die Oktoberrevolution in Russland, die niedergeschlagene Novemberrevolution in Deutschland, den Widerstand gegen den Faschismus in ganz Europa, die chinesische Revolution, die Revolten 1968 und alle anderen sozialistischen Versuche, bis zu den heutigen Kämpfen erstreckt. Diese Aufzählung ließe sich noch weiterführen mit den zahlreichen revolutionären Befreiungskämpfen in Asien, Südamerika und Afrika in den letzten Jahrhunderten.
Da wir uns nicht als UtopistInnen verstehen, die eine neue Gesellschaft auf eine leere Leinwand pinseln, studieren wir die bisherigen Versuche revolutionärer Umgestaltungen und Kämpfe, um daraus theoretische und praktische Lehren für perspektivische Umwälzungen zu ziehen. Wenn wir aus der Geschichte lernen, sollten wir uns darüber bewusst sein, dass die RevolutionärInnen vergangener Zeiten auf nur wenige Erfahrungen zurückgreifen konnten. Heute haben wir ungleich bessere Voraussetzungen, da wir durch die vergangenen Anstrengungen zu einem großen Erfahrungsschatz revolutionärer Versuche Zugang haben. Die Erkenntnisse, die wir aus dem Studium der Geschichte gewinnen können, sind allerdings kein Selbstzweck, sondern bilden die Grundlage unseres politischen Handelns, unserer Theorie und Praxis. Dabei ist jeder errungene Sieg und jede erlittene Niederlage eine Lehre für uns, für den heutigen Aufbau von Strukturen und für aktuelle Kämpfe. Der Blick zurück ist so immer auch ein Blick nach vorne.
Für uns kommt es darauf an, die Geschichte der revolutionären Linken nicht aus einer moralischen und scheinbar zeitlosen Warte zu beobachten und einer reinen Kritik zu unterziehen, sondern die Erfahrungen und Fehler in ihrem historischen Kontext zu betrachten und zu diskutieren. Es liegt in unserer Verantwortung die Fehler und Prozesse zu studieren, die zum Scheitern oder zu Verirrungen von historischen Kämpfen und sozialistischen Versuchen geführt haben, um ähnliches nicht zu wiederholen. Aber auch die positiven Erfahrungen und Erfolge aufzugreifen. Schon Ende 1918 erkannten die GenossInnen der frisch gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands:
„Die Geschichte ist der einzig wahre Lehrmeister, die Revolution ist die beste Schule des Proletariats. Sie werden dafür sorgen, dass die „kleine Schar“ der Meistverleumdeten und Verfolgten Schritt um Schritt zu dem wird, wozu ihre Weltanschauung sie bestimmt: zur kämpfenden und siegenden Masse des revolutionären sozialistischen Proletariats.“