Linke Stadtguerilla, das war ein direkter Angriff auf die kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschafts(un)ordnung. Und das wird nicht verziehen. Deshalb ist es auch heute, Jahre nach der endgültigen Auflösung der Roten Armee Fraktion (RAF) für die Meinungsmacher hierzulande scheinbar immer noch notwendig, auf die tote Guerilla einzuschlagen. Zumal in Zeiten, in denen deutsche Soldaten (wieder einmal) für die “globalen ökonomischen Interessen Deutschlands” in anderen Ländern kämpfen und töten und sich die sozialen Gegensätze hierzulande verschärfen. Der öffentlich-mediale Blickwinkel ist dabei stets einseitig tendenziös. Die RAF, oder genauer: Das, wofür sie stand, soll als etwas Verachtenswertes in Erinnerung bleiben.

Zum Medien-Event um den runden Jahrestag des sogenannten “Deutschen Herbstes” tingeln reuige Ex-Revoluzzer durch Talkshows, versuchen Medien und Autoren, mit Serien und Büchern zum Thema Auflage zu machen. Mit einer sachlichen Aufarbeitung vergangener Ereignisse hat das wenig zu tun. Dem haftet vielmehr meist der Geruch von psychologisierender Denunziation und geschichtlicher Vernebelung an.

Wer seinen Blickwinkel fundiert erweitern möchte, hat nun mit dem neu aufgelegten Buch “Stammheim” des niederländischen Rechtsanwaltes Pieter Bakker-Schut die Gelegenheit dazu. Der Untertitel “Die notwendige Korrektur der herrschenden Meinung” ist Programm. Das Buch gilt als Standardwerk der Gegenöffentlichkeit zum Thema RAF. Bakker-Schut nennt sein als juristische Habilitationsschrift verfaßtes Buch eine “wissenschaftliche Studie der beobachtenden Teilnahme”.

Schon in der umfangreichen Einleitung benennt er detailliert politische Hintergründe, Ursachen und Entwicklungen linker Stadtguerilla und ordnet diese geschichtlich ein. Das Buch ist eine Fallstudie über den bis dahin größten politischen Prozeß der Nachkriegszeit in der BRD, die Strafsache gegen die sogenannten Gründer der RAF Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Holger Meins und Jan Carl Raspe.

Ausführlich wird beschrieben, wie sich “im Verlauf des Prozesses der juristische Überbau zu einem Mittel der präventiven Aufstandsbekämpfung verändert” hat. Die Einrichtung einer spezielle Staatsschutzkammer im Rahmen einer Justiz, die bereits dem NS-Regime gut gedient hatte, ist ebenso Gegenstand der Untersuchung wie spezielle Gesetze, die ad hoc geschaffen wurden und teilweise illegale Maßnahmen nachträglich in Gesetzesform gossen oder auch spezielle Haftbedingungen (soziale und sensorische Isolation), spezielle körperliche Repressionen, spezielle (Hochsicherheits-)Gefängnisse und spezielle Gerichtsgebäude.

Exbundeskanzler Helmut Schmidt kommentierte dies später so: “Ich kann nur nachträglich den deutschen Juristen danken, daß sie das alles nicht verfassungsrechtlich untersucht haben.” Etliche dieser Gesetze (z. B. Kontaktsperre, Verbot der Mehrfachverteidigung) sind jedoch noch heute gültig.
Aktuelle Verhältnisse
Entgegen der Realität versuchten (und versuchen) Justiz, Regierung und Medien, die RAF zu entpolitisieren. Dreh- und Angelpunkt der Anklage war der Vorwurf der “Kriminellen Vereinigung” (Paragraph 129 Strafgesetzbuch). Geprüft wurde auch, ob wegen “Hochverrats” als dem klassischen politischen Delikt angeklagt werden könne. Dies wurde zum einen verworfen, weil dann – bei real bestehender Beweisnot der Bundesanwaltschaft – der Nachweis individueller Tatbeiträge notwendig geworden wäre, während der Paragraph 129 die Möglichkeit bot, schon allein aufgrund der Mitgliedschaft in der RAF zu verurteilen. Zum anderen hätte eine Anklage wegen Hochverrats quasi die öffentliche Anerkennung der RAF als politisch kämpfende Organisation bedeutet und das sollte (und soll) unbedingt vermieden werden. Zudem war es auf Regierungsebene wichtig, die RAF “völlig zu entsolidarisieren, sie von all dem zu isolieren, was es sonst an radikalen Meinungen in diesem Lande auch geben mag. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben.” (Horst Ehmke, SPD, in einer Rede 1972 im Bundestag). Das wird verständlich, wenn man bedenkt, daß seinerzeit laut Umfragen 25 Prozent der Arbeiterjugendlichen mit der RAF sympathisierten. Verteidigerrechte wurden beschnitten, Verteidiger selbst bedroht, kriminalisiert, vom Verfahren ausgeschlossen und mit Ermittlungs- und Strafverfahren überzogen. Akten der Verteidigung wurden von den Anklägern beschlagnahmt.

Bakker-Schut hat für sein Werk 14000 Seiten Prozeßprotokolle, sowie eine Fülle weiterer Unterlagen gesichtet und verarbeitet. Er unterhielt intensive Kontakte mit Gefangenen und Verteidigern, war Prozeßbeobachter in Stammheim. Seine Arbeit macht deutlich, daß dem Prozeß gegen die RAF ein politischer (Verurteilungs-)Wille zugrunde lag und das juristische Verfahren dementsprechend angepaßt wurde. Der hier skizzierte Inhalt kann aber nur einen kleinen Überblick geben. Wer en detail erfahren möchte, was damals tatsächlich geschah, kommt an der Lektüre dieses Buches kaum vorbei. Die Fähigkeit, den Darstellungen eines Juristen problemlos folgen zu können, ist dabei hilfreich. Die beschriebenen Ereignisse erinnern teilsweise an aktuelle Verhältnisse. Insofern handelt es sich bei “Stammheim” nicht nur um eine Geschichtsbetrachtung.

Zum Thema Terrorismus läßt Bakker-Schut beispielsweise einen ehemaligen Agenten der National Security Agency (NSA), Winslow Peck, zu Wort kommen: “Aufgrund meiner Forschungen auf dem Gebiet des Terrors und Gegenterrors bin ich der Ansicht, daß die Rote Armee Fraktion eine Antwort auf die kriminelle Aggression der US-Regierung in Indochina und die Beihilfe der deutschen Regierung war. (…) Die Bombenanschläge (der RAF) auf das IG-Farben-Haus (Hauptquartier des 5. Armeekorps der US-Streitkräfte in der BRD) aufgrund dessen Rolle in diesem kriminellen Krieg können unmöglich verglichen werden mit dem Bombardement auf Laos oder dem Versuch, die Flußdeiche in Nordvietnam zu zerstören. Die wahren Terroristen, das war meine Regierung und nicht die Rote Armee Fraktion.”

Wo sonst bekommt man solche Einschätzungen geboten?

Pieter Bakker-Schut: Stammheim, Vorwort: Ulla Jelpke, Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2007, 692 Seiten, 29,95 Euro

(24.09.2007 | Quelle: Tageszeitung Junge Welt | www.jungewelt.de) | Von Olaf Zander