Wohl niemand wird Karl-Heinz Dellwo vorwerfen, dass er zum 30. Jubiläum des Deutschen Herbsts geschwiegen habe. Das frühere RAF-Mitglied war im gerade abgelaufenen Jahr schier allgegenwärtig. Es trat nicht nur mit gleich zwei Buchveröffentlichungen an die Öffentlichkeit, sondern hat in Fernsehen und Radio, Zeitungen und Online-Magazinen, auf Lesetouren und Pressekonferenzen zahllose Male Stellung bezogen. Publizität sicherte ihm dabei vor allem seine Distanzierung von großen Teilen der RAF-Geschichte und seine Version der Stammheimer Todesnacht. Auch in linken Medien fanden seine Veröffentlichungen positive Resonanz, eine Rezension seines im Oktober erschienenen Buchs „Das Projektil sind wir“ in ak 522 beispielsweise nannte den Band einen „dissonanten Kontrapunkt zur massenmedialen Ausrichtung der letzten Monate“. Was fehlt, ist eine kritische Auseinandersetzung mit den Thesen Dellwos. Denn tatsächlich entsprechen seine Ausführungen in zentralen Punkten der jeweiligen staatsoffiziellen Version, ohne ihr etwas Substanzielles hinzuzufügen – es sei denn, man zählt die Aura des ehemaligen RAF-Militanten dazu, der angeblich geheimes Insiderwissen besitzt.

Schon zum 25. Jahrestag der Todesnacht von Stammheim hatte Dellwo in einem Interview erklärt: „Die Darstellung, dass die Gefangenen keine Bewaffnung hatten, ist definitiv falsch. Ich habe mit Leuten gesprochen, die die Waffen hineingebracht haben. Die stehen außerhalb jeden Zweifels.“(ND, 18.10.02) Jetzt, fünf Jahre später, hat er das Geheimnis um die angeblichen Waffenkuriere gelüftet: Sein Bruder Hans-Joachim Dellwo und Volker Speitel sollen es gewesen sein. Wenn bei beiden etwas außer Zweifel steht, dann ist es der Umstand, dass sie in zahlreichen RAF-Prozessen als Kronzeugen fungierten und die Räuberpistole von angeblichen Waffentransporten in Leitz-Ordnern bereits 1977/78 öffentlich erzählten: Die Stammheimer Gefangenen hätten „fast täglich Bestellungen aufgegeben“ und über ihre Anwälte Waffen, Sprengstoff „und jede Menge elektronisches Zeugs“ in das Hochsicherheitsgefängnis schmuggeln lassen. KronzeugInnen als zitierfähige Instanz?

Die Aussagebereitschaft der beiden nahm damals derart groteske Züge an, dass die Süddeutsche sie als „Meistersinger“ bespöttelte. Der Spiegel amüsierte sich über den „Redefluss“ der „geständnisfreudigen Angeklagten“, der ihnen eine neue Existenz im Ausland einbringen solle, und bilanzierte hinsichtlich weiterer Prozesse, in denen die zwei als Allzweckwaffe der Anklage dienen könnten: „Vor ihrer Ausreise ins Unbekannte werden die beiden ,Meistersinger` von Stammheim noch so manchen Auftritt absolvieren müssen, bis ihnen die Gage ausgezahlt wird.“(1) Karl-Heinz Dellwo hingegen verkauft die Tatsache, dass Speitel Kronzeuge war, als seine eigene Entdeckung: „Ausgerechnet zu Speitel, von dem bekannt war, dass er der Verbindungsmann zu den Illegalen war, soll keiner gegangen sein und ihm was angeboten haben? Das kann mir niemand erzählen.“ (FR, 19.10.074) Speitel habe sich selbst dem Staatsschutz angeboten – das zeige, dass er über wertvolle Informationen verfügt habe. Dellwos Behauptung, Speitel habe sich absichtlich verhaften lassen, ist pure Spekulation, die er mit der Aussage eines ominösen anonymen Zeugen garniert Dabei ist sie keineswegs nur harmlose Aufschneiderei: Indem er das Staatsschutzmärchen vom Waffenschmuggel in Anwaltsrobe weitererzählt, legitimiert er nicht nur die Medienhetze und die massive Kriminalisierung, der sich die VerteidigerInnen der RAF während der 1970er Jahre ausgesetzt sahen, er erhebt auch Kronzeugen grundsätzlich zur zitierfähigen, glaubwürdigen Instanz. Schon 1998 hatte er vertreten, „dass nicht sämtliche Aussagen der Kronzeugen vom Tisch gewischt werden können, mit dem Hinweis, alles, was sie gesagt haben, sei erkauft“(TAZ, 27.6.98).

Gedächtslücken auch bei der eigenen Biografie

Auch hält Dellwo die Vorgänge der Todesnacht von Stammheim für prinzipiell geklärt. In seiner Interview-Autobiografie „Das Projektil sind wir“, zu deren Veröffentlichung er eine Pressekonferenz ausgerechnet am 18. Oktober veranstaltete, erklärt er erst gar nicht, warum er die Tode für Selbstmorde hält. Stattdessen widmet das Buch sich der Frage, warum die Mordthese sich „gut zwei [!] Jahrzehnte lang gehalten“ habe und warum die „RAF-Sympathisanten“ dieser „Sprachregelung“ gefolgt wären.(2)

In einem am 19. Oktober von der FR veröffentlichten Interview, legt er dann immerhin ein – einziges – Argument vor: Die Sozialdemokratie habe die BRD in den 1970ern international als demokratischen, modernisierten Staat vorführen wollen, der sich vom Nazismus gelöst habe. (FR, 19.10.07) „Dieses Projekt durch eine Mordaktion zu gefährden – das schien mir nicht plausibel zu sein.“ Schon zum 25. Jubiläum der Todesnacht von Stammheim hatte Dellwo erklärt: „Die Mordthese kennzeichnet weder den Staat von damals, noch erfasst sie die RAF“ (ND, 18.10.02) – ein Satz, der gleich zweifach verblüfft. Zum einen, weil Dellwo ausgerechnet die Bundesrepublik von 1977 so stark um ihr internationales Image besorgt sieht, wo er doch die Tode von Holger Meins 1974, Siegfried Hausner 1975 und Sigurd Debus 1981 ausdrücklich als staatlichen Mord bezeichnet und verschiedentlich betont, dass Politiker und Medien während des Deutschen Herbsts öffentlich die Erschießung von Gefangenen diskutierten.(3) Zum anderen, weil der zweite Teil des Satzes offenbar sagen will, es passe nicht zur RAF, dass ihre Gefangenen sich ermorden ließen. Tatsächlich vertritt Dellwo, es liege nahe, „nicht als Opfer in der Ecke zu sitzen und abzuwarten“. Die Stammheimer Gefangenen „wollten nicht sterben. Sie dachten aber, sie müssten es, und das wollten sie noch umdrehen“(ND, 18.10.02) – weshalb sie, um gemäß ihrer Kampfmoral selbst über sich zu verfügen, Suizid begangen, es aber als scheinbaren Mord inszeniert hätten. Wenn die Gefangenen jedoch über Waffen und Sprengstoff verfügten und damit rechneten, dass sie ermordet werden sollten, warum sollten sie sich nicht gegen ihre Mörder verteidigen? Weil sie „das Ende [des Projekts RAF] akzeptiert“ und „mit ihrem Selbstmord die Konsequenz gezogen“ haben, ihr als Mord getarnter Freitod zugleich aber für andere eine „Aufforderung ans Weiterkämpfen [sein sollte], gegen die eigene Einsicht [der Selbstmörder]“.(4) Diese etwas verschlungene psychologische Ausdeutung steht wohlgemerkt nicht im Anschluss an den Versuch, einen Suizid zu belegen, sondern anstelle des Versuchs: so, als wäre ein Selbstmord erwiesen, wenn der Tote ein Motiv dafür hatte.

Eine Auseinandersetzung mit den konkreten Vorgängen rund um den 18. Oktober 1977 lehnt Dellwo folgerichtig ab. Konfrontiert mit den Unstimmigkeiten der offiziellen Version erklärt er lakonisch, in jeder Sache finde man Widersprüche. So gäbe es auch „Theorien, die detailliert aufblättern, dass Mohammed Atta nicht ins World Trade Center geflogen sein kann“ (Projektil, S. 147).

Dass es Selbstmord war, glaubt Dellwo auch aus dem Verhalten der RAF nach der Stammheimer Todesnacht ableiten zu können. So gebe es nur einen einzigen Text der Gruppe, der den Mordvorwurf erhebe(Taz, 27.6.98). Zudem habe ein früheres RAF-Mitglied (dessen Namen er allerdings nicht nennt) von einem Gespräch erzählt, das Illegale der RAF 1977 geführt hätten. Damals habe eine Person (deren Namen er ebenfalls nicht nennt) diejenigen, die von Mord sprachen, kritisiert: Sie sollten erkennen, dass die ums Leben gekommenen Gefangenen „Subjekt gewesen“ seien.(Ebd) Darüber hinaus ist Dellwo sicher: Die Illegalen hätten nach der Todesnacht anders gehandelt, wären sie überzeugt gewesen, dass es sich um Mord gehandelt habe: Sie hätten „nichts unversucht gelassen, das aufzuklären“. Zum Beispiel hätten sie „mit militärischen Mitteln die Herausgabe von Abhörprotokollen oder sonstigem Material aus Stammheim“ zu erzwingen versucht.(Ebd) Hatte Dellwo früher nur einen Selbstmord von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe sowie einen Selbstmordversuch von Irmgard Möller behauptet, so legte er 2007 nach: Nun sollen sich auch Ulrike Meinhof und Ingrid Schubert das Leben genommen haben. Auch hier glaubt er seine als Tatsachen präsentierten Hypothesen rein psychologisch begründen zu können. Im Falle Meinhofs gleicht diese Begründung verblüffend der von Stefan Aust: Es habe ein Zerwürfnis der Gefangenen gegeben, Ulrike Meinhof habe sich mit einer sozialrevolutionären Ausrichtung nicht gegen ihre antiimperialistisch orientierten Genossen durchsetzen können. Das zeige sich an der von Gudrun Ensslin im Stammheimprozess vorgetragenen Kritik des Anschlags, den die RAF 1972 gegen den Springer-Konzern verübte – einer angeblich von Meinhof organisierten Aktion. Diese Kritik sei eine öffentliche Demütigung für sie gewesen. Was Dellwo verschweigt: Ulrike Meinhof selbst hatte, nachdem bei der Aktion Beschäftigte des Konzerns verletzt worden waren, eine Kritik daran verfasst. Zudem besteht der betreffende Teil der Prozesserklärung, die wahrscheinlich sogar von ihr mitverfasst wurde, aus einem halben Satz – und zielt nicht, wie Dellwo glauben machen will, gegen die Idee, eine Kommandoaktion gegen Springer durchzuführen, sondern gegen einen Ablauf, der Unbeteiligte gefährdet.

Was geschah wirklich am 18.10.77 in Stamheim?

Ingrid Schubert, die dreieinhalb Wochen nach der Stammheimer Todesnacht im Gefängnis München-Stadelheim ums Leben kam, findet mehrfach bei Dellwo Erwähnung. Stets deklariert er ihren Tod, der ungeklärt ist und über den auch er nichts Genaues wissen kann, kurzerhand als Selbstmord (Ebd, S. 216) – ein Umgang mit politischer Geschichte, der sich durch alle seine Veröffentlichungen zieht: Im Vorübergehen behauptet er, nie belegt er, immer „wurde mir berichtet“, „weiß man heute“, „ist allgemein bekannt“. Und immer ist es die staatsoffizielle Version, der er so seinen Segen gibt. In „Das Projektil sind wir“ etwa behauptet er (und – unwidersprochen – seine Interviewer) auch, die Stammheimer Gefangenen hätten während der Kontaktsperre über ein Kommunikationssystem verfügt, es sei ihnen in dieser Zeit möglich gewesen, Nachrichten zu hören, und sie hätten ihre Zustimmung zur Entführung der „Landshut“ erteilt. Indirekt wärmt Dellwo so die alte Staatsschutzlegende von der aus den Zellen heraus gesteuerten Guerilla wieder auf, die zur Begründung der Kontaktsperre und unzähliger weiterer Repressionsmaßnahmen hergehalten hatte.

Was seine eigene Biografie betrifft, zeigt Karl-Heinz Dellwo bemerkenswerte Gedächtnislücken. So zum Beispiel bezüglich der bewaffneten Botschaftsbesetzung 1975 in Stockholm. Über die Explosion des Sprengstoffs, der damals das Gebäude vor Erstürmung sichern sollte, weiß das frühere Kommandomitglied nur zu sagen: „Das konnte nicht aus Versehen passieren. Ich kann keine Erklärung für die Zündung geben.“(Projektil, S. 119) Die nahe liegende These, dass die Sprengladungen gezielt von außen ausgelöst wurden, scheint er nicht mehr zu kennen. Dabei hatten er und seine Mitangeklagten im Prozess um die Botschaftsbesetzung mit mehreren Beweisanträgen darum gekämpft, gerade sie belegen zu können.

Drei Jahrzehnte nach dem Deutschen Herbst lässt sich konstatieren: 30 Jahre Herrschaftspropaganda und eine dramatische Veränderung der politischen Landschaft haben einen emanzipatorischen Blick auf die damaligen Vorgänge fast vollständig unter sich begraben. Wollen wir einen politischen Begriff von unserer gemeinsamen Geschichte bewahren, müssen wir die Debatte darüber wieder aufnehmen. Wir müssen die, die darüber sprechen, zur Genauigkeit zwingen und auf belegbaren Fakten bestehen. Und müssen darauf bestehen, dass noch immer offen ist, was am 18.10.77 wirklich geschah in der JVA Stammheim.

Sören Lindholm

(1) Der Spiegel, 27.11.78. Beide Kronzeugen bekamen später vom BKA eine neue Identität.

(2) Karl-Heinz Dellwo: Das Projektil sind wir. Der Aufbruch einer Generation, die RAF und die Kritik der Waffen. Gespräche mit Tina Petersen und Christoph Twickel. Hamburg 2007, S. 143ff.

(3) Projektil S. 9, 121, 168. ND, 18.10.02 und FR 19.10.

(4) FR 19.10.07, Tagesspiegel 25.3.07, Angelika Holderberg (Hg.): Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni sprechen mit Therapeuten über ihre Vergangenheit, S. 117

(18.01.2008 | Quelle: Zeitung Analyse und Kritik)