Am 13. Januar 1920, heute vor 100 Jahren, nahmen etwa 200.000 ArbeiterInnen an einer Kundgebung gegen das Betriebsrätegesetz vor dem Berliner Reichstagsgebäude teil. Sie endete mit einem Massaker. 42 Menschen starben und mindestens 100 wurden schwer verletzt. Wir möchten hier auf den lesenswerten, vom Historiker Leo Schwarz in der Jungen Welt veröffentlichen Themenbeitrag zum Massaker vor dem Reichstagsgebäude 1920 verweisen.

Geschichte der Rätebewegung – Tote im Haus

Die Auseinandersetzung um Rolle und Funktion der betrieblichen Arbeiterräte war das letzte Kapitel der Revolution von 1918/19. Es ist dies auch der Konflikt der Revolution, der am sichtbarsten auf betriebliche Kämpfe der Gegenwart verweist. Seine äußerste Zuspitzung war die Demonstrationsversammlung vor dem Berliner Reichstagsgebäude, an der am 13. Januar 1920 etwa 200.000 Arbeiter teilnahmen. Die Kundgebung, von der ein Augenzeuge Jahrzehnte später schrieb, ihre Größe habe »alles« übertroffen, »was ich jemals gesehen hatte«, richtete sich gegen den an jenem Tag in der Nationalversammlung beratenen Entwurf des Betriebsrätegesetzes. Sie endete mit einem Massaker, das die von dem preußischen Innenminister Wolfgang Heine (SPD) zum »Schutz« des Reichstagsgebäudes aufgebotene Sicherheitspolizei (Sipo) unter den Demonstranten anrichtete.

Die Demonstration, bei der 42 Menschen starben und mindestens 100 schwer verletzt wurden, ist die blutigste der deutschen Geschichte und heute dennoch nahezu vergessen – Ergebnis eines exemplarischen Schweigepaktes der bürgerlichen und der sozialdemokratischen Geschichtsschreibung, der noch durch die zählebige Lüge abgesichert wurde, die zusammengeschossene Kundgebung sei ein Versuch gewesen, die von Weimar nach Berlin übergesiedelte Nationalversammlung zu sprengen und so doch noch die »Räteherrschaft« zu errichten.

Zu den Ereignissen vom 13. Januar 1920 lag jahrzehntelang nur ein Aufsatz des DDR-Historikers Walter Wimmer aus dem Jahr 1957 vor. Über die Angelegenheit sei »merkwürdig wenig veröffentlicht worden«, stellten Wolfgang Benz und Hermann Graml 1976 in einer Fußnote fest – daran hat sich erst in allerjüngster Zeit im Kontext der zaghaften Wiederbelebung der Forschung zur Rätebewegung von 1918/19 etwas geändert. Es wirft ein Schlaglicht auf die geschichtspolitischen Grundsätze der Bundesrepublik, dass auf dem Platz der Republik zwischen Reichstagsgebäude und Bundeskanzleramt bis zum heutigen Tag nichts an das Massaker erinnert, das hier vor 100 Jahren stattfand.

Ende der politischen Räte

Als das Jahr 1919 zu Ende ging, waren die politischen Arbeiterräte geschlagen und größtenteils aufgelöst. Der Berliner Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte, der sich am 10. November 1918 zunächst als Leitungsgremium aller deutschen Räte konstituiert und auch die – zu keinem Zeitpunkt tatsächlich ausgeübte – Aufsicht über den Rat der Volksbeauftragten beansprucht hatte, erwies sich als vergleichsweise langlebig, büßte bis zum Sommer 1919 aber jegliches politisches Gewicht ein. Am 16. Juli erklärte die SPD ihren Austritt aus dem Vollzugsrat und der Vollversammlung der Berliner Arbeiterräte – wo sie zuletzt noch etwa 300 der rund 1.000 Mitglieder gestellt hatte – und bildete einen konkurrierenden Rat. Der preußische Finanzminister Albert Südekum sperrte dem »roten« Vollzugsrat daraufhin die Finanzmittel. Ende Juli löste sich der für die militärischen Räte zuständige Ausschuss des Vollzugsrates auf, da in seinem Einzugsgebiet keine Soldatenräte mehr existierten. Immerhin ging der von der USPD und der KPD getragene Vollzugsrat nicht ohne Kampf unter: Auf dem Höhepunkt des Berliner Metallarbeiterstreiks, der im September begonnen hatte, ließ Reichswehrminister Gustav Noske am 6. November 1919 die Räume des Vollzugsrates in der Münzstraße besetzen und die anwesenden Mitglieder verhaften, nachdem der Vollzugsrat versucht hatte, den Metallarbeiterstreik zu einem Generalstreik auszuweiten. Als arbeitende Körperschaft war er damit am Ende; es ist unklar, ob er sich danach noch einmal reorganisieren konnte – unter einigen Demonstrationsaufrufen jedenfalls findet sich auch 1920 noch ein Berliner »Vollzugsrat«. Am 5. Dezember 1919 wurde der im März über Berlin verhängte Belagerungszustand aufgehoben – es war nun nicht mehr zweifelhaft, dass die politische Rätebewegung am Boden lag.

Der sozialdemokratisch-bürgerlichen Gegenrevolution war es also bis zum Herbst 1919 gelungen, die radikale Arbeiterbewegung aus dem politischen Raum auszuschalten und in die Betriebe zurückzudrängen. Hier allerdings lagen die Dinge etwas komplizierter. Auch in den Betrieben hatten sich seit Ende 1918 vielerorts gewählte Räte gebildet, die zunächst einmal die jeweilige Belegschaft gegenüber der Unternehmensleitung vertraten, dabei mehr oder weniger stark in die Leitung eingriffen und mitunter auch ohne Zutun der Gewerkschaften Löhne und Arbeitsbedingungen regelten. Über ihre Aufgaben und Rechte freilich bestand keine Klarheit. Das war ein Problem, weil sich nicht einmal Noske traute, diese »wirtschaftlichen« Räte genauso wie die politischen Räte restlos zu beseitigen: Es war offensichtlich, dass auch die Arbeiterbasis der SPD an ihnen festhalten wollte.

Die vorerst ohne gesetzliche Grundlage tätigen betrieblichen Arbeiterräte waren tatsächlich eine Einrichtung, die die revolutionäre Bewegung noch in ihrer Niederlage erzwungen hatte. Weder die SPD noch die mit ihr verbundenen Gewerkschaften hatten derlei angestrebt. Noch Ende Februar 1919 hatte die Reichsregierung feierlich erklären lassen, dass »kein Mitglied des Kabinetts daran denke, das Rätesystem in irgendeiner Form in die Verfassung aufzunehmen«; das Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften äußerte sich wiederholt im gleichen Sinne. Anfang März musste die Regierung angesichts der politischen Massenstreiks in Mitteldeutschland, Berlin und dem Ruhrgebiet allerdings binnen Tagen reagieren: Sie ließ die Freikorps auf die Streikenden los, bemühte sich aber gleichzeitig, deren Reihen mit der Versicherung ins Wanken zu bringen, in der Nationalversammlung in Weimar werde an einem »Gesetzbuch der wirtschaftlichen Demokratie« gearbeitet, das die »konstitutionelle Fabrik auf demokratischer Grundlage« bringen werde. Von der parallel versprochenen Sozialisierung etwa des Kohlebergbaus wollte man schon bald nichts mehr wissen, hinter die nun einmal versprochene »demokratische Fabrik« aber konnte man nicht mehr vollständig zurück, ohne neue schwere Erschütterungen zu provozieren.

Im Artikel 165 der Weimarer Reichsverfassung wurden die betrieblichen Arbeiterräte im August 1919 verfassungsrechtlich anerkannt. Es hieß hier: »Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, in gleichberechtigter Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken.« Die Verfassung räumte den Räten also maximal eine auf wirtschaftliche und soziale Fragen beschränkte betriebliche Regelungskompetenz ein, die noch dazu durch die Festlegung eingeschränkt war, dass sie in »Gemeinschaft« mit dem Eigentümer des Betriebs auszuüben war.

Hilfsorgan des »Arbeitgebers«

Der noch im August in die Nationalversammlung eingebrachte und in den folgenden Monaten unter dem Druck der Unternehmerverbände immer weiter verschlechterte Entwurf des Betriebsrätegesetzes (BRG) sah schließlich vor, die Betriebsräte auf eine »Unterstützung des Arbeitgebers in der Erfüllung der Betriebszwecke« festzulegen – von einer auch nur milden »Kontrolle« der Betriebsleitung durch die Vertreter der Belegschaft war keine Rede mehr. Zu diesem Bild gehörte auch die Verpflichtung der Betriebsräte, »den Betrieb vor Erschütterungen« – also Streiks – »zu bewahren«. Dazu habe der Betriebsrat »das Einvernehmen innerhalb der Arbeitnehmerschaft sowie zwischen ihr und dem Arbeitgeber zu fördern«. Jede politische Betätigung war den Betriebsräten untersagt. Alles in allem kam das einer Parodie auf den Rätegedanken bzw. einer Verkehrung in sein Gegenteil ziemlich nahe.

Hinter den Festlegungen im Entwurf des BRG verbarg sich einerseits der »Herr im Hause«-Standpunkt der Unternehmer, die die Räte – wenn überhaupt – nur als Hilfsorgane der Betriebsleitung zu akzeptieren bereit waren, und andererseits – was gerne übersehen wird – auch das Interesse der rechtssozialdemokratischen Gewerkschaftsführungen, eine konkurrierende, zu Tarifauseinandersetzungen fähige Vertretung der Belegschaften zu verhindern. Zudem mussten die Gewerkschaftsführer, die die Betriebsräte als radikalen Unruheherd und Überrest der von ihnen von Anfang an entschieden bekämpften politischen Rätebewegung ohnehin misstrauisch beäugten, damit rechnen, dass die Betriebsräte nicht nach links, sondern irgendwann nach rechts – nämlich in die Arme des jeweiligen Unternehmers – umkippten.

Die »betriebsegoistische Gefahr« des Betriebsrätewesens, also die Möglichkeit, dass ein Betriebsrat etwa in Lohnfragen nicht mehr das kollektive Interesse aller Arbeiter einer Branche, sondern (an der Seite des einzelnen Unternehmers) das Konkurrenzinteresse eines einzelnen Betriebes oder Betriebsteiles vertrat, wurde 1919 und auch in den Jahren danach breit thematisiert, denn hier drohte sogar der borniert reformistische Gewerkschaftsstandpunkt unterminiert zu werden. Carl Legien warnte schon im Februar 1919 davor, mit betrieblichen Räten die »Einheit des Berufszweiges« zu »zersplittern«: »Alle bisherigen Gesetze der Solidarität hören hier auf, jeder nehme für sich, was er kriegen kann.« Um die Gewerkschaften sowohl gegen eine von den Betriebsräten ausgehende Radikalisierung der Belegschaften als auch gegen den »Betriebsegoismus« abzusichern, enthielt das BRG eine Anerkennung des Vorranges der Gewerkschaften vor den Betriebsräten: Festgelegt wurde, dass die Befugnisse der Gewerkschaften durch das BRG nicht tangiert werden und das grundsätzlich das Primat des Tarifvertrages, als dessen »Organ« der Betriebsrat verstanden wurde, gelten sollte.

Umgekehrt waren linke, überwiegend der USPD angehörende Gewerkschafter darauf bedacht, sich in den Betriebsräten eine von den reformistischen, auf die »Arbeitsgemeinschaft« mit den Unternehmern fixierten Gewerkschaftsführern unabhängige Hausmacht in den Betrieben zu schaffen. Diese Bestrebungen waren innerhalb des Deutschen Metallarbeiterverbandes, der größten Einzelgewerkschaft, die seit 1919 eine linke Führung hatte, besonders stark. Ihre organisatorische Zusammenfassung fanden sie in der Berliner Betriebsrätezentrale, die in gewisser Weise eine Ersatzorganisation des von Noske aufgelösten Vollzugsrates war. Hier waren auch syndikalistische Tendenzen lebendig. Der Betriebsrätezentrale ging es erklärtermaßen darum, »alle Kräfte des werktätigen Volkes zu einer Kampforganisation zusammenzufassen und über die Notwendigkeit wirtschaftlicher und politischer Aktionen zu entscheiden«.

KPD »protestiert« nicht

Im Vorfeld der zweiten Lesung des BRG, die für den 13. Januar 1920 angesetzt war, kursierten zwei Protestaufrufe. Beide wandten sich scharf gegen den Entwurf und forderten das »volle Kontrollrecht über die Betriebsführung« für die »revolutionären Betriebsräte«. Nur einer allerdings, jener der Berliner USPD-Organisation, des Vollzugsrates und einiger Berliner Gewerkschaften, der erst am 13. Januar in der Morgenausgabe der USPD-Zeitung Freiheit veröffentlicht wurde, rief für den gleichen Tag zu einer Protestkundgebung vor dem Reichstagsgebäude auf. Die Arbeiter, hieß es darin, sollten um 12 Uhr mittags die Betriebe verlassen und »vor dem Reichstage« demonstrieren. Die unmittelbare Leitung der Kundgebung lag bei der Berliner Betriebsrätezentrale.

Obwohl das bis heute fälschlich behauptet wird, rief die KPD nicht zu dieser Demonstration auf. Einerseits machte die Partei geltend, von dem kurzfristigen Demonstrationsaufruf der Berliner USPD überrumpelt worden zu sein, obgleich man sich zuvor »auf möglichste Gemeinsamkeit der Aktion verständigt hatte«, wie am Tag danach die Rote Fahne schrieb. Außerdem erhob die Partei einen prinzipiellen Einwand: »Die USP hat wieder einmal die Massen auf die Straße gerufen: zur Demonstration, zum Protest, unter diesen negativen Parolen.« Derlei sei aber bloß das »Straßenbild der parlamentarischen Aktion und kann nur entstehen in Köpfen, die noch völlig benommen sind vom parlamentarischen Kretinismus, die glauben, auch mit der parlamentarischen Ablehnung oder mit der Verhinderung eines parlamentarischen Aktes sei etwas Revolutionäres geschaffen«. Damit war gemeint, dass die KPD die Arbeiter allein für ein »positives Ziel« – in diesem Fall die selbständige Schaffung und Verteidigung revolutionärer Betriebsräte ohne Rücksicht auf das von der Nationalversammlung beschlossene Gesetz – auf die Straße rufen wollte. Es sei eine »an Verbrechen grenzende Naivität, zu glauben, dass die bürgerlichen Fraktionen der Nationalversammlung sich von der demonstrierenden Masse beeinflussen lassen und anders stimmen werden«, hieß es ein paar Tage später in der Kommunistischen Räte-Korrespondenz.

Die nach der Parteispaltung stark geschwächte Berliner SPD, die sich seit Ende 1918 durch den Zustrom vieler kleiner Angestellter und Beamter zwar wieder erholt hatte, in den Industriebetrieben der Hauptstadt aber über einen deutlich geringeren Einfluss verfügte als die USPD, wandte sich mit einem Aufruf gegen die Demonstration (»Seid auf der Hut und folgt ihnen nicht!«), der allerdings wirkungslos verpuffte. Wie vorgesehen, ruhte ab Mittag des 13. Januar, einem Dienstag, die Arbeit in den Berliner Großbetrieben – bei der AEG, bei Siemens, bei Daimler in Marienfelde, bei Schwartzkopff usw. Am frühen Nachmittag füllte sich der Platz zwischen Reichstag und Kroll-Oper nach und nach.

Bleiche SPDler

Als der USPD-Abgeordnete Curt Geyer das Reichstagsgebäude betrat, fand er es mit Angehörigen der seit Sommer 1919 aufgestellten, für die Aufstandsbekämpfung geschaffenen paramilitärischen Sicherheitspolizei besetzt, die mit Karabinern, Maschinengewehren und sogar Flammenwerfern bewaffnet waren. Geyer kannte diese Truppe nicht; wegen der grünen Uniformen und der kriegsmäßigen Bewaffnung nahm er an, es seien Reichswehrsoldaten. Auf seinen Protest hin, schrieb er später, habe ihm der Präsident der Nationalversammlung, der Zentrumsabgeordnete Constantin Fehrenbach, erwidert, dass die Anwesenheit der Bewaffneten vom preußischen Innenminister Heine veranlasst sei, der sich auch im Gebäude aufhalte. Heine, wusste Geyer, gehörte zur »äußersten Rechten« in der SPD und war ein »wütender Gegner der Revolution«. Geyer sah, wie die Abgeordneten durch die Fenster des Speisesaals den Aufmarsch beobachteten: »Vor allem die sozialdemokratischen Abgeordneten waren bleich vor Furcht«, denn »draußen stand praktisch die gesamte Berliner Arbeiterschaft und demonstrierte gegen sie und ihre Politik«. Heinrich Malzahn, der Leiter der Kundgebung, setzte Geyer von seinen Absichten in Kenntnis: »Haltet nur erst eure Reden, dann werde ich die Demonstration für geschlossen erklären und zum Abmarsch auffordern.«

Kurz nach 15 Uhr begann die Sitzung der Nationalversammlung. Etwa zum gleichen Zeitpunkt stauten sich auf den Zugangsstraßen zum überfüllten Königsplatz die weiterhin zum Kundgebungsort strömenden Arbeiter. Die »unerwartete Riesengröße der Demonstration« (Geyer) überforderte die Organisatoren. Die zentrale »Bühne« war ein flacher Wagen; an verschiedenen Punkten des weiten Platzes sprachen Redner zu den Anwesenden, die allerdings nur so weit zu verstehen waren, wie ihre Stimmen reichten.

Wie sich später herausstellte, befanden sich drei Sipo-Hundertschaften im Reichstagsgebäude. Ein kleiner Teil davon sicherte die Freitreppe und die Auffahrtsrampe zum Königsplatz hin. Gegen 15.30 Uhr kam es hier zu Rangeleien. Angehörige der Sipo hieben mit Gewehrkolben auf »herandrängende« Demonstranten ein. Einige sollen überwältigt und entwaffnet worden sein; die Gewehre sollen die Demonstranten zerschlagen haben. Dabei löste sich offenbar ein erster Schuss. Wenig später feuerte ein Demonstrant mit seiner erbeuteten Waffe einen Schuss auf das Portal des Reichstags ab, wurde aber von umstehenden Arbeitern sofort entwaffnet und verprügelt. Einen Versuch, das Gebäude zu stürmen – wie anderntags unter anderem vom Vorwärts behauptet – unternahm jedenfalls niemand.

Die Eskalation erfolgte schließlich vor dem Südportal (Portal II) an der Simsonstraße (heute Scheidemannstraße). Hier hatte Geyer beim Betreten des Gebäudes »auf dem Pflaster des Bürgersteigs« Maschinengewehre mit knieenden bzw. liegenden Bedienungen gesehen. Aus diesen Waffen wurde gegen 15.45 Uhr in die auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehende Menge geschossen – nach mehreren Warnschüssen, wie danach sozialdemokratische und bürgerliche Zeitungen behaupteten, oder ohne jede Vorwarnung, wie USPD und KPD versicherten. Auch mehrere Handgranaten flogen in Richtung der sofort fliehenden Demonstranten. Den Feuerbefehl am Portal II gab Hans von Kessel, ein aus dem berüchtigten Freiwilligenregiment Reinhard, das im Januar und März 1919 in Berlin im Einsatz gewesen war, hervorgegangener Offizier, der maßgebend am Aufbau der Sipo beteiligt war.

Die behauptete bedrohliche Annäherung der Demonstranten an das Portal ist allem Anschein nach allerdings gar nicht erfolgt; Zeugen sagten aus, dass die Simsonstraße zum Zeitpunkt der Schüsse menschenleer gewesen sei. Offenbar wurden fast alle Toten am oder im Tiergarten aufgefunden, kein einziger aber direkt am Reichstag oder auf der Simsonstraße. Geyer, der seine Erinnerungen in den 1960er Jahren niederschrieb, als er längst mit der Arbeiterbewegung gebrochen hatte, beharrte darauf, dass es sich bei der Behauptung, die bedrängte Sipo habe in Notwehr geschossen, um eine »Geschichtslüge« handele. Er eilte nach dem Hinweis eines Abgeordneten aus dem Plenarsaal zum Portal II: »Beide Flügel der schweren Tür waren weit offen. Jenseits der Fahrbahn sah man Tote und Verwundete auf dem Bürgersteig liegen.« Die Sipo war verschwunden. Einzelne Verletzte und Tote hatte man in den Vorraum getragen. Der Abgeordnete Bernhard Düwell rief Geyer zu: »Diese Schweine setzen die Sitzung fort.« Beide eilten in den Sitzungsaal, wo sie zusammen mit den anderen USPD-Abgeordneten den widerstrebenden Fehrenbach nötigten, die Sitzung abzubrechen: »Es sind Tote im Haus. Schluss! Schluss!«

Noch am Abend des 13. Januar verhängte Reichspräsident Friedrich Ebert den Ausnahmezustand nach Artikel 48 der Reichsverfassung über Berlin und große Teile der Republik. In den betroffenen Gebieten wurde Noske die vollziehende Gewalt übertragen. Die nun einsetzende neue Welle der Repression gegen die Arbeiterbewegung wird in der historischen Literatur kaum beachtet, obwohl sie in mancher Hinsicht noch drastischer war als jene des Jahres 1919. Die Voraussetzungen dafür waren mit der neuen Reichsverfassung geschaffen worden. Es sei, schrieb General Wilhelm Groener schon im August 1919, für den Fall »neuer Unruhen« eine Verordnung vorbereitet, die dem Reichswehrminister »so umfassende Vollmachten gibt, dass man von diktatorischen Vollmachten sprechen kann«. Die Verordnung »übertrifft in dieser Beziehung die Vollmachten des alten Belagerungsgesetzes«.

Alle öffentlichen Versammlungen, Umzüge und Streiks waren verboten – und damit die gerade anlaufende Mobilisierung gegen das BRG mit einem Schlag erledigt. Am nächsten Tag traten dennoch einige Berliner Betriebe in einen kurzen Proteststreik; danach wurden alle Ansätze zu Streiks rücksichtslos unterdrückt. Am 18. Januar verabschiedete die Nationalversammlung das BRG in dritter Lesung gegen die Stimmen der USPD (sowie der nationalliberalen DVP und der konservativ-reaktionären DNVP, die jegliche Belegschaftsvertretung grundsätzlich ablehnten).

Da neben der Freiheit und der Roten Fahne noch 42 weitere USPD- und KPD-Zeitungen verboten wurden, hatte die linke Opposition keine Plattform mehr, um die Regierungsversion der Ereignisse des 13. Januar breitenwirksam in Frage zu stellen. Einige hundert Menschen – vor allem Vertreter des linken Flügels der USPD – wurden festgenommen, darunter der Kovorsitzende der Partei, Ernst Däumig (während Arthur Crispien und andere führende Leute des rechten Parteiflügels auf freiem Fuß blieben), und der KPD-Vorsitzende Paul Levi. Am 22. Januar wären in Berlin beinahe alle Mitglieder der Zentrale der KPD verhaftet worden. Die Regierung Bauer hielt wochenlang an dem Ausnahmezustand fest, obwohl sich die Proteste auch aus der SPD und den Gewerkschaften mehrten. Um nie wieder eine legale Demonstration an den Reichstag herankommen zu lassen, wurde im Mai 1920 per Gesetz ein Bannkreis geschaffen, in dem politische Kundgebungen und Umzüge grundsätzlich verboten waren.

Verhöhnte Opfer

Die Regierung und die sie stützende Presse konzentrierte sich seit dem 14. Januar darauf, die Demonstration unter allen Umständen als Putschversuch darzustellen. Reichskanzler Gustav Bauer sagte im Reichstag, es habe ein »Angriff gegen den Parlamentarismus und die Demokratie« stattgefunden. Er verband diese groteske Anschuldigung mit heftigen Angriffen auf die USPD: »Der traurige Ruhm, die Untat begangen zu haben, fällt auf die Unabhängigen.« Der Vorwärts verhöhnte die Opfer der Sipo am gleichen Tag geradezu: »So haben die Sicherheitsmannschaften, auch in der größten Notwehr, eine Zurückhaltung an den Tag gelegt, für die gerade die Demonstranten alle Veranlassung hätten, sich dankbar zu zeigen.«

Beim SPD-Parteitag in Kassel im Oktober 1920 wurde im Bericht des Parteivorstands dreist über die Motive der Demonstranten gelogen: »Gerade jetzt hielt man den Augenblick für gekommen, um den gewalttätigen Umsturz, der am 6. Januar 1919 missglückte (…), zu versuchen.« Die rechtssozialdemokratische Haushistorikerin Susanne Miller nannte es in ihrem bis heute in gängigen Überblicksdarstellungen ausgewerteten Standardwerk über die deutsche Sozialdemokratie in der Nachkriegszeit noch 1978 »durchaus glaubwürdig«, dass – wie von der bürgerlichen und der SPD-Presse behauptet – die Demonstranten gegen die Sipo vorgegangen und dabei »die ersten Schüsse« von Demonstranten abgegeben worden waren. Warum ihr das »glaubwürdig« erschien, erläuterte sie selbstverständlich nicht, zumal sie – hier wich sie von dem alten Narrativ ab – freimütig einräumte, dass »niemand« an jenem Tag an einen Sturz der Regierung gedacht hatte. Dieses Zugeständnis diente ihr freilich nur dazu, die »politische Verantwortungslosigkeit« der »radikalen Führung« zu geißeln, die eine »Masse« mobilisiert habe, die sie nicht habe kontrollieren können.

Im Oktober 1920 entschied sich ein gewerkschaftlicher Betriebsrätekongress mit großer Mehrheit dafür, die Betriebsräte den Gewerkschaften unterzuordnen. Bald schon setzte eine erkennbare »Vergewerkschaftlichung« der Betriebsrätearbeit ein. Dabei hatten die sozialdemokratischen Gewerkschaften mit linken, auf eine politische und offensive Betriebsratsarbeit bedachten Gewerkschaftern mehr zu kämpfen als mit den befürchteten »betriebsegoistischen« Tendenzen. Der »Abwehrkampf der Gewerkschaften« gelte »in erster Linie dem revolutionären Betriebsrätewesen«, schrieb der bürgerliche Soziologe Kurt Brigl-Matthiaß 1926 in seiner Studie über das »Betriebsräteproblem«. Dieser Kampf war, wie er zufrieden notierte, unterdessen erfolgreich gewesen: Durch das BRG und die gewerkschaftliche Praxis sei »von dem ursprünglichen Rätegedanken nur ein karger Rest« geblieben. Dass die Grundlage dieses »Erfolges«, das BRG, nur mit dem Mittel des Ausnahmezustandes hatte durchgesetzt werden können, ist ein beredtes Zeugnis für die Lebendigkeit und Breite der deutschen Rätebewegung, die sich wenige Wochen später, als die konservative und präfaschistische Rechte gegen die Republik putschte, ein letztes Mal regte.